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Exzellenz in der Aktivierung: Ein Ansatz aus der Glücksforschung

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Susanne Bieri, Fachfrau Aktivierung, macht derzeit eine Ausbildung in intermedialer Kunsttherapie. Dabei geht es darum, Menschen durch künstlerisches miteinander Tätigsein zu begleiten und zu unterstützen. Welchen Ansatz aus der positiven Psychologie oder Glücksforschung nutzt sie dabei und warum ist dieser Ansatz bei ihrer Zielgruppe besonders wirksam?

26. März 2024

Susanne Bieri, Fachfrau Aktivierung
«In der Flow-Theorie geht es darum, Aktivitäten zu finden, die uns Freude bereiten, Neugierde wecken, zum Spiel anregen und unsere Fähigkeiten herausfordern.»
Susanne Bieri, Fachfrau Aktivierung, Gesundheitszentrum Entlisberg

Der berufliche Rucksack von Susanne Bieri ist gut gefüllt: Neben ihrer 13-jährigen Tätigkeit als Pflegefachfrau HF im Akutbereich hat sie eine therapeutische Ausbildung in integrativer Körperarbeit und den CAS «Altern systemisch betrachtet» abgeschlossen. Seit 18 Jahren ist sie als Fachfrau Aktivierung im Gesundheitszentrum Entlisberg tätig und macht aktuell an der Schule für Gestaltung in Bern eine Ausbildung in intermedialer Kunsttherapie HF. Dort hat sie sich im Rahmen einer Semesterarbeit intensiv mit der Flow-Theorie befasst. Wie sie diesen Ansatz bei ihrer Arbeit in der Gerontopsychiatrie anwendet und welche Erfahrungen sie damit gemacht hat, erzählt sie im Interview.

Susanne, du bist Fachfrau Aktivierung in der Gerontopsychiatrie. Was macht deine Arbeit besonders?
Die Arbeit in der Gerontopsychiatrie ist insofern besonders, als bei den Menschen, mit denen ich arbeite, der Beziehungsaufbau sehr komplex ist und viel Zeit, Geduld und Sensibilität erfordert. Durch ein stabiles, verlässliches und verbindliches Beziehungsangebot meinerseits ermögliche ich ihnen, Vertrauen aufzubauen. Das ist die Grundlage für das Einlassen auf ein gemeinsames Sein und Tun. Dabei gilt es zu berücksichtigen: Wer bei uns auf der Abteilung wohnt, hat in der Regel während des gesamten Erwachsenenlebens schon sehr viel Institutionserfahrung gesammelt, zum Beispiel in der Akutpsychiatrie. Und diese Erfahrungen waren bestimmt nicht gerade einfach.

Was bedeutet das für dich bei der Beziehungsgestaltung?
Die Menschen bei uns auf der Abteilung haben häufig belastete, zerrüttete Beziehungen mit dem erweiterten Familiensystem, bis hin zu Beziehungsabbruch und totalem sozialem Rückzug. Es ist darum sehr wichtig, dass mein Beziehungsangebot kontinuierlich besteht – auch nach Krisen oder Eskalationen. Beständigkeit ist elementar: Ich darf Ablehnung und Rückzug niemals persönlich nehmen. Von einem Tag auf den anderen können Vertrautheit und Nähe wieder möglich sein. Entscheidend ist zudem, dass ich für die Bewohnenden beobachtbar bin.

Inwiefern ist das wichtig?
Es kommt oft vor, dass mir eine Bewohnerin die kalte Schulter zeigt und eine direkte Beziehung lange nicht gelingt. Das Beobachtbarsein ist dann der erste Schritt zum Beziehungsaufbau. Die Bewohnerin sieht, wie ich mit anderen interagiere. Wie gehe ich mit ihnen um? Lebe ich eine Beziehung auf Augenhöhe? Wie kommuniziere ich? Die Menschen auf der gerontopsychiatrischen Abteilung erlebe ich oft als sehr sensibel und feinfühlig.

Wie unterscheidet sich deine Arbeit auf der gerontopsychiatrischen Abteilung von der Arbeit auf einer Allgemeinabteilung?
Die Aktivierung arbeitet in der Regel zielorientiert oder produktorientiert. In der Gerontopsychiatrie ist dies oft nicht möglich. Bei uns steht der Prozess im Vordergrund. Wir versuchen, einen Erlebnisraum zu öffnen, um zu tun und auch einfach zu sein, ohne ein klar definiertes Ziel vor Augen zu haben. Das heisst, wir erschaffen eine Atmosphäre, machen uns auf einen Weg und schauen laufend, was geht. Das verlangt eine grosse Flexibilität von uns: Wir reagieren schnell und hoch professionell auf die jeweilige Situation, indem wir begleiten und Verantwortung für den sicheren Rahmen übernehmen.

Wie gehst du bei deiner Arbeit vor?
Ich lote in der Aktivierungs- und Kunsttherapie aus, was die Fähigkeiten und Herausforderungen der Person sind – und zwar in diesem Moment. Dafür setze ich bewusst einen Ansatz ein, mit dem ich mich im Rahmen meiner Ausbildung vertieft auseinandergesetzt habe: die sogenannte Flow-Theorie von Mihaly Csikszentmihalyi.

Worum geht es in der Flow-Theorie?
Die Flow-Theorie ist ein Modell aus der positiven Psychologie oder Glücksforschung: Es geht darum, Aktivitäten zu finden, die uns Freude bereiten, Neugierde wecken, zum Spiel anregen und unsere Fähigkeiten herausfordern. Diese haben sich verändert im Alter, mit der Krankheit – und sie sind auch nicht jeden Tag gleich. Wenn wir in unserem Tun aufgehen, erreichen wir einen Flow-Zustand. Wir fühlen uns ruhig und gelassen, sind hoch konzentriert und verlieren das Zeitgefühl sowie das Bewusstsein für die Welt um uns herum. Wir gehen komplett im Hier und Jetzt auf. In der Flow-Theorie ist der Weg das Ziel.

Wie findest du heraus, wie jemand in den Flow kommt?
Eine gute Voraussetzung dafür ist ein Atelier mit vielfältigen Materialien, in dem die Bewohnenden sinn- und zweckfrei wirken können. Durch Beobachten und Ausprobieren (Trial-and-Error-Prinzip) sehe ich, wo und wie jemand in den Flow kommt. Wo gibt es einen Treffer zwischen Material und Fähigkeiten? Denn dann kommt die Person ins Tun. Dabei ist wichtig, dass wir integriert auf der Abteilung arbeiten und nicht nur zu fixen Zeiten. So können wir das Programm situativ anpassen, was oft nötig ist, da wir im Vornherein nicht wissen können, wer welche Befindlichkeit hat und wo Flow möglich wird. Das ist, als ob man auf einem Fluss, den man nicht kennt, ohne Kartenmaterial Kanu fährt. Man weiss nicht, was nach der nächsten Kurve kommt: Gibt es einen Baum, einen Wasserfall oder ist Stillstand und ich muss paddeln?

Wie äussert es sich, wenn jemand den Flow findet?
Ich erkläre das gerne anhand des Beispiels einer Bewohnerin, die einen Monat lang bei der Aktivierung zugeschaut und geraucht hat. Einladungen mitzutun, tat sie ab. Sie schien lustlos, gar depressiv. Bei vielen Dingen sagte sie, dass sie das nicht mehr könne. Sie legte Pinsel und Farbe weg und beteiligte sich nicht kreativ. Durch ein gerade entstandenes Problem, das wir gemeinsam in der Gruppe mit Fantasie zu lösen versuchten, und durch das Bereitlegen von verschiedenen Materialien begann sie plötzlich, mit Plastilin zu arbeiten. Beim Kneten, Gestalten und Kombinieren von Farben waren die Vorbehalte und die Zigaretten für lange Zeit vergessen. Material und Fähigkeiten passten zusammen: Sie war im Flow. Sie erstrahlte richtiggehend mit ihren Kompetenzen. Das Feedback der Gruppe war gewaltig und das Erlebnis nachhaltig: Sie arbeitete später an ihrem Werk weiter und es wurde ein wichtiger Teil eines grossen Ganzen. An der Vernissage Ende Sommer gab es sogar Käuferanfragen. Ihre Antwort: «Unverkäuflich!»

Ist die Flow-Theorie auch über die Aktivierung hinaus hilfreich?
Auf jeden Fall. Die Flow-Theorie ist in der Gerontopsychiatrie auch in der Pflege anwendbar. In der Pflege hat man zwar ein Ziel im Kopf, zum Beispiel die Medikamentenabgabe. Aber man muss sich bewusst sein, dass der Weg dorthin jedes Mal ein anderer sein kann. Man muss spüren, wo der Flow in der Beziehung ist. Wo überfordere oder unterfordere ich eine Bewohnerin? Was sind ihre Fähigkeiten in genau diesem Moment? Das zu spüren, ist auch in der Pflege die grosse Herausforderung. Auch sich selbst kann man die Frage im herausfordernden Berufsalltag stellen: Bin ich überfordert oder unterfordert, passen die Herausforderungen für mich? So kann ich selbst gut für mich sorgen, mich weiterentwickeln und wachsen.