Christoph Sigrist

Der langjährige Pfarrer am Grossmünster und Erforscher der Zürcher Seele zeichnet den Stadtplan neu.

Die Kirche und die Stadt? Wer Christoph Sigrist fragt, gelangt auf einen inspirierenden Streifzug durch Zürich und seine Geschichte. Zwingli und Hannah Arendt, Schutzsuchende und Raver*innen, Leute in den Quartieren – ihnen allen begegnet man. Es geht schnell und bilderreich voran auf dieser Stadterkundung. Das passt, Christoph Sigrist ist in Bewegung, die Stadt kennt ihn und umgekehrt. 

Sein «Mandat» als Grossmünsterpfarrer strahlte weit über die Kirche hinaus. «Wenn man die Pacht bekommt, ist man nicht nur für die Stallwärme zuständig», sagt er. Stadt- und Kirchenraum seien durchlässig. Im Februar etwa haben Stadt und Grossmünster zur Menschenkette anlässlich des Jahrestags des Kriegsbeginns in der Ukraine eingeladen. Gemeinsam hielt man einen dreisprachigen Gottesdienst, Stadtpräsidentin, Rabbiner und Imam waren anwesend. «Die Prozessionsachse zwischen Stadthaus und Grossmünster wurde politisch aufgeladen», so Sigrist an diesem sonnigen, kühlen Morgen im Kreuzgang der Kirche. Es ist heiter unter dem hellblauen Himmel und still.  

 «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers.»

Zeichen setzen, dafür kennt man ihn. Wie oft hat man ihn wohl gefragt, ob er für mediale Aufmerksamkeit zu haben sei.  Lichtinstallationen an den Altstadtkirchen hat er initiiert, Sans-Papiers in der Kirche aufgenommen, während des Lockdowns den Segen über die Stadt gerufen. Er hielt einen Gottesdienst an der Street Parade und wünschte als glühender Fan dem FCZ alles Glück für den Cupfinal.  

Die Kirche ist urbanes Wahrzeichen, sakraler Raum, Touristenattraktion, Schutzraum, Ort der Sehnsucht. Für Sigrist beherbergt sie die Stadtseele. Und er weiss, wie sie «tickt». Der Freigymi-Schüler aus Schwamendingen erlebt in den 1980er-Jahren, wie «Züri brännt» und sich Kulturräume freikämpft. 2003 wird er Grossmünsterpfarrer und erkennt, dass sich Kirche und Stadt zusammen entwickeln, «wie zwei Stimmgabeln in einem Resonanzraum». Der Tanker, als den er die reformierte Kirche in seiner Jugend wahrgenommen hatte, habe sich in schnellere, wendigere Katamarane verwandelt.

Grossmünster ist fast so gut besucht wie der Zoo 

Zwar habe die Kirche als Institution Mitglieder verloren, aber das religiöse Empfinden sei da. «Die Zürcher Stadtseele ist nicht areligiös geworden, sondern divers», meint er. «In diesem diversen Element zeigt sich die religiöse Vielfalt.» Mit Freude belegt er das anhand steigender Besucherzahlen: 2023 habe das Grossmünster fast mit dem Zoo gleichgezogen.  

Die Kirchtürme sieht Sigrist als Griffel, mit denen die Kirche die Dimension des sozialen Zusammenlebens im Stadtplan einzeichnet. Sie zeichnen Bekanntes im Fremden ein, womit wir uns im Fremden wiedererkennen. Denn Heimat und Fremdsein prägten Zürich, so führt Sigrist aus, seit der Legende der Stadtheiligen Felix und Regula, den Flüchtlingen während der Reformation und wieder während des Zweiten Weltkriegs, als der Satz fiel «Das Boot ist voll». Es geht darum, eine Heimat für die Vielfalt zu finden. 

Quartierlotsen und «Kümmerer» helfen in der Stadt der Zukunft. Im Kurs «Letzte Hilfe» lernen Interesssierte, wie sie Hochbetagte begleiten können.   

Vielfalt verlangt nach solidarischem Handeln. Wie helfen wir einander in der Stadt der Zukunft? Seit Jahren forscht der Theologe an der Uni Bern und neu auch in Zürich über urbane Diakonie, die religiös begründete Sozialarbeit. Mit seiner Stiftung fördert er private Projekte für das Zusammenleben in der Nachbarschaft. Kooperationen zwischen Fachleuten und Freiwilligen, Kirchen und Institutionen seien dabei zentral.

Indem das Zusammenspiel von Politik, Markt und Zivilgesellschaft neu definiert werde, würden sich Quartiere entwickeln. Auf diese Weise sind etwa Quartierlotsen, «Kümmerer» und Begegnungsstätten ins Leben gerufen worden, und Interessierte können im Kurs «Letzte Hilfe» lernen, Hochbetagte zu begleiten.  

Die City und der Pfarrer haben viel zu tun. Die Gesellschaft verändert sich schnell. Christoph Sigrist mag das Grossmünster-Amt abgegeben haben, aber sein Katamaran ist in voller Fahrt.  

Nina Toepfer