Gehörlose Geflüchtete bei der AOZ – eine Erfolgsgeschichte mit Zukunft
Aktuell sind rund 20 gehörlose Geflüchtete in den Programmen der AOZ im Einsatz. Mit Erfolg. Daraus ist eine Kooperation mit der DIMA zustande gekommen, dem Verein für Sprache und Integration.
Tetiana Dashkieieva steht in der Küche des Restaurants «Paprika», einem Betrieb der AOZ. Sie lacht und fuchtelt mit einem Messer in der Luft herum. Vor ihr steht der Küchenchef, die beiden haben offensichtlich Spass an der Arbeit. Eine sprachliche Barriere ist nicht spürbar. Tetiana ist Teilnehmerin im Arbeitsintegrationsprogramm der AOZ in der Küche tätig und gehörlos. «Mir gefällt es, im Team zu arbeiten. Es ist abwechslungsreich. Je mehr wir uns kennenlernen desto besser funktioniert die Kommunikation. Wir kommunizieren mit Gesten. Mit dem neu gelernten Wortschatz in Gebärdensprache kann ich mich mit meinem Arbeitskolleg*innen unterhalten», sagt sie.
Das Restaurant Paprika ist auf Frauen ausgerichtet und vermittelt den Teilnehmerinnen die Grundlagen der Gastronomie. Es besteht ein grosses Interesse an Zusatzangeboten, wie zum Beispiel Sprachkursen. Kommuniziert wird, nebst einfacher Gebärdensprache, mittels Mail und auch mit Übersetzungs-Apps. Wichtige Informationen werden schriftlich eingereicht, damit sie in Ruhe zu Hause gelesen und verstanden werden können.
Steigende Nachfrage
Tetiana ist eine von vielen gehörlosen Migrant*innen, die in die Schweiz kommen. Der Ukrainekrieg hat die Thematik noch intensiviert, sind doch von den rund 99'000 aus der Ukraine geflüchteten Personen seit Kriegsbeginn im Februar 2022 bis Februar 2024 über 350 gehörlos. Sie sind hier mit besonders vielen Herausforderungen konfrontiert. Heute, Stand August 2024, sind rund 20 gehörlose Geflüchtete in den Programmen der AOZ im Einsatz, die meisten von ihnen kommen aus der Ukraine. Tendenz steigend. Die Teilnehmenden arbeiten im Brockenhaus Brockito, bei Züri rollt, im Restaurant Paprika, der Handwerkstatt und den Gemeinnützigen Einsatzplätzen (GEP). Die Erfahrungen sind durchs Band sehr gut, die Rückmeldungen positiv. Die Nachfrage steigt.
Ein Leben ohne Sozialhilfe
Sergeii Malyshevskyi ist Teilnehmer bei Züri rollt und arbeitet in der Velostation am Europaplatz. Er beobachtet hochkonzentriert seinen Coach, der ihm gerade mittels Übersetzungs-App und unter Einsatz von Gestik erklärt, wie man eine administrative Kundenanfrage beantwortet. Dass Sergeii Malyshevskyi gehörlos ist und die beiden Männer unterschiedliche Sprachen sprechen, stört weder den einen noch den anderen. Sergeii Malyshevskyi sagt: «Mir gefällt der Austausch mit den Kund*innen und das Erfüllen ihrer Wünsche. Ich möchte bewusst am Empfang arbeiten und mit den Menschen in Kontakt sein. Eine Arbeit finden und ohne Sozialhilfe leben ist mein grosser Wunsch».
Vertrauen, Offenheit und Beginnergeist als Basis für die Zusammenarbeit
Gemäss Leonie von Amsberg, Bereichsleitung Integration Arbeit bei der DIMA, besteht der Kontakt zwischen ihr und der AOZ schon länger. Die DIMA habe schon immer die Fühler ausgestreckt auf der Suche nach Kooperationspartnern und Projekten. So ist sie dann auch aktiv auf das Brockenhaus Brockito in Oerlikon zugegangen. «Die Zusammenarbeit mit der AOZ war von Anfang an angenehm und pragmatisch: Einfach machen, auch wenn es Schwierigkeiten und Unsicherheiten bei der Thematik gab.» Karin Hasler, Stabsmitarbeiterin beim Fachbereich Arbeit der AOZ, bringt das mit den vorhandenen Kompetenzen der Mitarbeitenden in Verbindung: Sie können Dinge vereinfachen. Die enorme Vielfalt an Teilnehmenden aus aller Welt bedinge grundsätzlich eine Offenheit und Flexibilität bei der Kommunikation. Auch die Fähigkeit, mit Bildern zu kommunizieren, sei eine gute Ausgangslage, um mit Gehörlosen zu arbeiten. Die Tatsache, dass die Gehörlosen die Gebärdensprache in ihrer Sprache und nicht in der Deutschschweizer Version gelernt haben, ginge man unkompliziert und offen an.
«Ich bin überzeugt, dass ich es schaffen kann»
Den pragmatischen Umgang miteinander sieht man auch bei den Teilnehmenden in der Handwerkstatt sehr deutlich. Die Kommunikation funktioniert scheinbar mühelos. Wo Worte fehlen, werden sie durch Gesten ersetzt, auch das Handy unterstützt. Nataliia Koshel verpackt gerade eine Auftragsarbeit namens «Ludwig», einen Frottee-Dackel aus dem Katalog der Handwerkstatt. «Wir kommunizieren mit Gesten und Gebärdensprache. Ich hoffe sehr, dass ich in der Arbeitswelt einen Job finde. Ich bin überzeugt, dass ich es schaffen kann», erzählt sie.
Schöne Aussichten für die Zukunft und das Pilotprojekt «Jobcoaching»
Die Nachfrage nach Arbeitsintegration für Gehörlose bei der AOZ steigt, da es bei den ukrainischen Geflüchteten besonders viele Gehörlose gibt. Sie bilden eine Community, die stark untereinander vernetzt ist. Somit sprechen sich die Programme automatisch herum.
Leonie von Amsberg bekommt für die Schulungen in Gebärdensprache bei DIMA viele Anmeldungen. «Der Lernwille sowie die Bereitschaft zur Entwicklung sind gegeben und wachsen weiter.» Aufgrund dieser positiven Entwicklung arbeiten die AOZ und DIMA im Rahmen eines Pilotprojekts daran, ein Jobcoaching-Angebot für gehörlose Teilnehmende aufzubauen. Die AOZ verfügt bereits über viel Erfahrung im Jobcoaching von geflüchteten Menschen. Ziel des Pilots ist es, ein Jobcoaching-Angebot zu schaffen, das auf den spezifischen Bedarf der Gehörlosen zugeschnitten ist.
Dem Traum ein Stück nähergekommen
Kostiantyn Karnaukh begutachtet im Brockito gerade einen in seine Einzelteile zerlegten Schrank. Er erklärt auf Deutsch und Ukrainisch sowie mittels Gesten, dass er den Schrank nun wieder zusammensetzen wird und sich darauf freut. Er ist hochmotiviert und hat gerade erst die Fahrprüfung bestanden, so dass er seinem Traum, als Fahrer im Transportbereich des Brockito tätig zu sein, etwas näherkommen kann: «Das Team ist super. Ich fühle mich unterstützt und kann jederzeit mit Fragen und Problemen zu den Expert*innen.» Sein Wunsch ist es, eine Festanstellung als Chauffeur zu finden.
Chancen und Herausforderungen in einer komplexen Welt
Die Gebärdensprache ist eine hochkomplexe Sprache und so ist die Kommunikation mit gehörlosen Geflüchteten auch mit grossen Herausforderungen verbunden. Es gibt vereinzelt Personen unter ihnen, die keine Gebärdensprache gelernt haben, die meisten haben aber eine landesspezifische Gebärdensprache gelernt. Einige von ihnen können nur sehr wenig schreiben, was eine Kommunikation zusätzlich erschwert. «Die Gebärdensprache macht einmal mehr deutlich, dass Sprache nicht nur ans gesprochene oder geschriebene Wort gebunden ist. Wir wollen dazu beitragen, dass die gesellschaftliche und berufliche Teilhabe von Gehörlosen eine Selbstverständlichkeit wird, sagt Karin Hasler.
Gebärdensprache
Mit den Händen sprechen – das ist für Gehörlose ganz selbstverständlich. Allerdings darf man sich nicht täuschen lassen, die Gebärdensprache ist hochkomplex. Zum Einsatz kommen Hände, Arme, Kopf und der gesamte Oberkörper. Sie ist also dreidimensional, man hört sie nicht, aber man sieht sie. Die Worte werden mit den Händen gebildet. Wichtig ist zudem der Gesichtsausdruck (Mimik) und die Bewegungen des Mundes, die man gleichzeitig macht. Für die Gebärden nutzt man eine dominante Hand und eine nicht dominante Hand. Für eine Rechtshänderin ist die rechte Hand die dominante Hand.
Gehörlose sind sehr aufmerksam in ihrer Wahrnehmung. Es ist wichtig, den Ort der Gebärde ebenfalls genau zu wählen. Tonfälle können nicht gehört werden, weshalb der Gesichtsausdruck zum Beispiel ungemein wichtig ist, damit die Stimmung mitgelesen werden kann. Ein «Ja» kann mit Kopfnicken unterstrichen werden, ein «Nein» mit einem Kopfschütteln.
Die wichtigste Sprache für Gehörlose ist die Gebärdensprache. Zusätzlich gibt es ein Fingeralphabet. Hier wird jedem Buchstaben des Alphabets ein eigenes Gebärdenzeichen zugeordnet. Das Fingeralphabet ergänzt die Gebärdensprache und hilft, Namen und Worte zu buchstabieren, für die noch kein Gebärdenzeichen verfügbar ist – zum Beispiel für Namen oder seltene Wörter.
Die Gebärdensprache ist nicht nur komplex, sie ist natürlich auch nicht für alle Länder der Welt gleich. Die Schweiz kennt drei verschiedene Gebärdensprachen: Deutschschweizerische (DSGS), Französische (LSF) und Italienische Gebärdensprache (LIS). Darüber hinaus gibt es innerhalb der Deutschschweiz fünf Dialekte: Zürich, Bern, Basel, Luzern und St. Gallen. Das ist eine grosse Herausforderung – sowohl für die asylsuchenden Gehörlosen als auch für die Organisationen.
Über die DIMA
Seit 20 Jahren bietet der Verein für Sprache und Integration DIMA gehörlosen und schwerhörigen Menschen neue Möglichkeiten zu einer beruflichen und gesellschaftlichen Integration. Mit massgeschneiderten Kursen und spezifischem Unterrichtsmaterial unterstützt DIMA ihre Lernenden bei der Stellensuche, der Weiterbildung am Arbeitsplatz oder Migranten bei der Integration in die Schweizer Gesellschaft. DIMA ist eine Non-Profit-Organisation und auf Fördergelder sowie private Spenden angewiesen.
Mehr Informationen zu den bilingualen Angeboten und Dienstleistungen finden sich auf der Webseite.
Das Interview mit Leonie von Amsberg finden Sie hier.