Anke Just-Kroll ist Betriebsleiterin im Gesundheitszentrum für das Alter Balderen. Dr. Kornelia Kotkowski ist Leiterin Forschung bei den Gesundheitszentren für das Alter.
Die steigende Zahl älterer Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen ist eine Herausforderung für Alters- und Pflegeheime. Im Gesundheitszentrum für das Alter Balderen wird dieser Realität mit einem Ansatz begegnet, der Lebensqualität und Selbstbestimmung fördert. Der Beitrag zeigt die Betreuung im interprofessionellen Team sowie die Bedeutung von individueller Fürsorge und Respekt für Autonomie auf.
Mit steigender Lebenserwartung nimmt der Anteil älterer und alter Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung zu, die aufgrund ihres Pflege- und Betreuungsbedarfs in einer stationären Wohnform leben. Zu den häufigsten Abhängigkeitserkrankungen im Alter gehören Medikamentenmissbrauch, Alkoholabhängigkeit und der Konsum illegaler Drogen. Menschen über 65 Jahre sind die Gruppe, die in Bezug auf Alkohol mit das höchste risikoreiche Konsumverhalten aufweist. Die wichtigsten Faktoren dafür sind der veränderte Stoffwechsel im Alter, der den Alkoholabbau verlangsamt und eine verringerte Alkoholtoleranz zur Folge hat, sowie die mögliche Nutzung von Alkohol als Bewältigungsmechanismus bei gesundheitlichen und psychosozialen Problemen. Darüber hinaus können mangelndes Bewusstsein für die Risiken, Gewohnheiten sowie der einfache Zugang zu Alkohol das risikoreiche Konsumieren fördern. Abhängigkeitserkrankungen im höheren Alter belasten sowohl die betroffenen Personen selbst als auch ihr Umfeld. Im Gesundheitszentrum Balderen werden unter anderem Bewohnende begleitet und betreut, die eine Abhängigkeitserkrankung haben, zum Teil in Kombination mit einer psychiatrischen Diagnose. Ziel ist nicht das Erreichen von Abstinenz, sondern der Erhalt und die Steigerung der individuellen Lebensqualität. Der Beitrag beschreibt die Leitlinien für die Betreuung und Begleitung von Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen, vor allem Alkoholabhängigkeit, und den Umgang mit Herausforderungen.
Lebensqualität
Lebensqualität zu schaffen, zu erhalten und zu steigern, ist ein sehr individuelles Ziel, denn der Begriff bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Gleichwohl können wir von einigen Gemeinsamkeiten ausgehen: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert sich bei ihrer Definition von Lebensqualität an «der Wahrnehmung einer Person hinsichtlich ihrer Stellung im Leben im Kontext der Kultur und der Wertesysteme, in denen sie lebt». Unser Wertesystem sieht eine Abhängigkeit immer noch überwiegend als individuelles Problem und nicht als Erkrankung. Abhängigkeit als Krankheit zu betrachten, entzieht der Person nicht die Verantwortung für ihr Handeln, stellt jedoch die Erkrankung in den Gesamtrahmen des Systems, in dem die Person lebt. Diese systemische Perspektive verdeutlicht, dass ein Leben mit einer Abhängigkeitserkrankung von vielen verschiedenen Einflussfaktoren geprägt ist.
Im Gesundheitszentrum Balderen wird die Lebensqualität der Bewohnenden eng mit ihrer Handlungsfähigkeit verbunden. Eine Person, die so viel Alkohol konsumiert, dass sie nicht mehr in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, ist in ihrer Handlungsfähigkeit stark eingeschränkt – auch wenn sie die konsumierte Menge selbst bestimmt. Mehr Selbstbestimmung erfährt sie, wenn sie die tägliche Menge selbst festlegt und diese dann kontrolliert abgegeben wird: So kann sie am täglichen Leben teilhaben, ohne in einen Entzug zu geraten. Autonomie bedeutet nicht nur Selbstbestimmung, sondern auch Handlungsfähigkeit. Fürsorge, Nichtschaden und Selbstbestimmungsrecht sind ethische Werte, denen wir im Gesundheitszentrum Balderen grosse Bedeutung beimessen: Wir handeln so, dass die Bewohnenden so weit wie möglich selbstbestimmt leben können.
Eintrittsprozess
Die Bewohnenden treten überwiegend aus einer psychiatrischen Klinik oder der gerontopsychiatrischen Übergangsabteilung des Gesundheitszentrums Entlisberg ein: meist aufgrund eines akuten gesundheitlichen Ereignisses, einer zunehmenden Pflegebedürftigkeit oder eines Wohnungsverlusts. Im Aufnahmegespräch wird erfasst, ob und welche Abhängigkeiten bestehen und wie bisher damit umgegangen wurde. Gemeinsam mit der zuständigen Pflegefachperson sowie dem behandelnden Heimarzt oder der behandelnden Heimärztin sowie dem Psychiater oder der Psychiaterin wird besprochen, welche Menge an Alkohol oder Zigaretten in welchem Zeitraum notwendig ist, um die subjektive Lebensqualität aufrechtzuerhalten. Es werden klare Absprachen mit der betroffenen Person getroffen, ob der Alkohol oder die Zigaretten eigenständig verwaltet oder kontrolliert durch das Pflegeteam abgegeben werden. Auch die Art der Selbstverwaltung oder der Abgabe wird festgelegt (z. B. Abgabe der Gesamtmenge oder mehrmals täglich in Teilmengen). Die Vorteile einer solchen Absprache sind unter anderem ein reduziertes Risko von Stürzen und Folgeerkrankungen durch übermässigen Alkoholkonsum und dadurch weniger Spital- und Klinikaufenthalte. Zudem bleibt die Handlungsfähigkeit der betroffenen Person erhalten, und ihre Fähigkeit zur sozialen Teilhabe wird verbessert. Die Medikamente werden vor dem Hintergrund des Alkoholkonsums überprüft und gegebenenfalls angepasst, um die bestmögliche Lebensqualität zu gewährleisten.
Ärztliche Versorgung und Therapien
Der Heimarzt oder die Heimärztin und der Psychiater oder die Psychiaterin kommen ein- bis zweimal pro Woche zur Visite. So kann eine krankheitsbedingte Verschlechterung des Zustands zeitnah erkannt und behandelt werden. Weitere Angebote wie Physiotherapie, Zahnmedizin, Augenheilkunde oder Podologie stehen ebenfalls im Gesundheitszentrum bereit. Gleichzeitig werden die Bewohnenden je nach Fähigkeit aufgefordert, auch externe Angebote zu nutzen. Durch Tätigkeiten wie Coiffeurbesuche und Einkäufe bleiben sie in die Gesellschaft eingebunden, was zur Stärkung ihrer Selbstwirksamkeit und damit zur Verbesserung ihrer persönlichen Befindlichkeit beiträgt. Mit Bewohnenden, die damit überfordert wären, werden individuelle Absprachen getroffen. Die Aspekte des Normalisierungsprinzips müssen in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen so weit wie möglich eingehalten werden.
Beziehungsarbeit
Beim Eintritt findet ein Kennenlerngespräch statt, das entweder der Fachexperte Psychiatrie oder der Leiter Betreuung und Pflege führt. Ziel ist es, von Anfang an eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, um die Kooperationsbereitschaft der Bewohnenden zu fördern. Beim Einzug wird dem neuen Bewohner oder der neuen Bewohnerin die pflegerische Bezugsperson vorgestellt als Ansprech- und Kontaktperson. Die Bezugsperson bespricht Arztvisiten mit ihm oder ihr sowie dem Pflegeteam vor und nimmt an diesen teil. Zudem ist sie für die Bezugspersonengespräche verantwortlich, die mindestens zweiwöchentlich stattfinden, sie nimmt an den interdisziplinären Standortgesprächen teil und organisiert, je nach Bedarf, gemeinsam mit der zweiten Bezugsperson Aufgaben wie Einkäufe, den Kontakt mit Angehörigen oder die Besprechung von Wünschen zur Alltags- und Lebensgestaltung. Innerhalb der ersten drei Monate des Aufenthalts wird ein Gespräch zur gesundheitlichen Vorausplanung durchgeführt, um abzuholen und zu dokumentieren, welche Behandlung die Bewohnenden im Fall einer Urteilsunfähigkeit wünschen, z. B. kurativ im Gesundheitszentrum oder kurativ im Spital. Die interprofessionelle Zusammenarbeit zwischen dem Pflegeteam, den Fachpersonen aus den Therapien sowie dem Heimarzt oder der Heimärztin und dem Psychiater oder der Psychiaterin ist ein zentraler Bestandteil unseres Betreuungskonzepts. Sie stellt sicher, dass die Betreuung und Begleitung sowie die medizinische Behandlung der Bewohnenden unter Einbezug aller relevanten Themen und Bedürfnisse erfolgt.
Herausfordernde Situationen
Herausfordernde Situationen entstehen im Alltag meist dann, wenn Bewohnendenbedürfnisse von den Mitarbeitenden nicht zeitnah erkannt oder fehlinterpretiert werden. Dies kann beim Eintrittsprozess oder im bestehenden Tagesablauf passieren. Die Sensibilisierung aller Mitarbeitenden ist hier besonders wichtig, um frühzeitig zu erkennen, ob sich im Verhalten Anzeichen für eine psychische Belastung zeigen, die sich in Agitation oder Aggressionen entladen könnte. Beim Zusammenleben in einer Institution kommt es immer wieder zu herausfordernden Situationen zwischen Bewohnenden, etwa aufgrund von unterschiedlichen Bedürfnissen. Die Fähigkeit der Bewohnenden, in einen konstruktiven Dialog zu treten, ist teilweise eingeschränkt, was Unterstützung durch die Mitarbeitenden nötig macht. Um mit herausfordernden Situationen professionell und belastungsfrei umgehen zu können, werden die Mitarbeitenden geschult und befähigt, deeskalierend zu intervenieren, mit dem Ziel, eine für alle annehmbare Lösung zu finden. Bei Situationen, die nicht in einem vertretbaren Rahmen gelöst werden können, kann es in Einzelfällen zu einer befristeten Verlegung ins Spital oder in eine psychiatrische Klinik oder in Ausnahmefällen zu einem Auszug aus dem Gesundheitszentrum kommen. Prämisse ist jeweils, einen passenden Wohnplatz zu finden, der die Bedürfnisse sowie den Pflege- und Betreuungsbedarf der Person adäquat abdeckt.
Zudem kann es zu Konflikten zwischen dem Betreuungsteam und Bewohnenden kommen. Gründe hierfür sind zum Beispiel unterschiedliche Vorstellungen von Körperhygiene oder der Notwendigkeit medizinaltechnischer Verrichtungen. Die Mitarbeitenden haben verschiedene Optionen, um eine Eskalation zu vermeiden: Manchmal wird die Betreuungsperson gewechselt, die Betreuung wird gleichzeitig von zwei Pflegemitarbeitenden durchgeführt oder es gibt einen angekündigten Abbruch der pflegerisch-betreuerischen Massnahmen. Diese Interventionen sollen dazu beitragen, die Situation zu beruhigen und den Bewohnenden genügend Stabilität zu verschaffen, um absprachefähig zu werden. Die Bewohnenden haben ebenfalls die Möglichkeit, die Situation zu verlassen oder den Beizug anderer Mitarbeitenden zu wünschen. Zudem können sie pflegerische Interventionen mit ihrer Bezugsperson besprechen und Wünsche anbringen. Herausfordernde Situationen werden von den Mitarbeitenden in Fallbesprechungen thematisiert. So kann das Team eine gemeinsame Haltung entwickeln und gewährleisten, dass alle Mitarbeitenden klar und konsequent agieren und kommunizieren, ohne die Autonomie der Bewohnenden zu sehr zu beschneiden.
Weiterbildung und Fachexpertise
In den Gesundheitszentren wird grossen Wert auf pflegerische und medizinische Expertise gelegt. Mitarbeitende, die ins Gesundheitszentrum Balderen kommen, müssen nicht zwingend einen psychiatrischen Hintergrund haben, denn sie werden fachlich weitergebildet. Es wird jedoch erwartet, dass sie eine Haltung mitbringen, die möglichst vorurteilsfrei ist in Bezug auf die Themen und Problematiken der Bewohnenden. Wichtig sind auch die Freude am Weiterlernen sowie eine grosse Fähigkeit zur Selbstreflektion. Die fachliche Weiterbildung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit dem Schulungszentrum Gesundheit der Stadt Zürich (SGZ). Alle Pflegemitarbeitenden besuchen einen fünftägigen Basiskurs Gerontopsychiatrie sowie einen dreitägigen Deeskalationskurs, darüber hinaus stehen Vertiefungskurse zu unterschiedlichen Themen der Gerontopsychiatrie zur Verfügung. Mitarbeitende aus anderen Bereichen wie Hauswirtschaft, technischer Dienst oder Administration werden ebenfalls am SGZ geschult.
Im Gesundheitszentrum Balderen finden wöchentlich interprofessionelle Fallbesprechungen mit dem Gerontopsychiater oder der Gerontopsychiaterin statt. Sie unterstützen die Mitarbeitenden im Alltag, erhöhen die Qualität der Bewohnendenversorgung und lenken den Fokus auf die individuellen Aspekte der Betreuung. Monatlich werden zudem Supervisionen mit den Psychologen und Psychologinnen der Beratungsstelle LiA (Leben im Alter) der Universität Zürich durchgeführt.
Um die Fachentwicklung zu fördern und den Pflegenden im Alltag zur Seite zu stehen, ist im Gesundheitszentrum Balderen ein Fachexperte Psychiatrie tätig. Er begegnet den Mitarbeitenden aller Professionen auf Augenhöhe, unterstützt in herausfordernden Bewohnendensituationen und bietet Hands-on-Coachings an. Durch seine regelmässige Teilnahme an Übergaberapporten können die Mitarbeitenden Situationen reflektieren, die sie als herausfordernd erlebten. Gemeinsam wird besprochen, welche Interventionen als hilfreich empfunden wurden und ob ähnliche Situationen in Zukunft besser gehandhabt werden können. Der Fachexperte bietet auch Fachinputs und Kommunikationsschulungen an, um die Resilienz der Mitarbeitenden im Umgang mit Bewohnendensituationen zu stärken. Resiliente Mitarbeitende können sich an Veränderungen anpassen, mit Stress umgehen und ihre psychische Gesundheit bewahren.
Dieser Beitrag ist in NOVAcura, der Schweizer Fachzeitschrift der Pflege, erschienen
Die Beispiele beschreiben einen möglichen Umgang mit einer Alkoholabhängigkeit unter Berücksichtigung der ethischen Grundprinzipien der Pflege in den Gesundheitszentren. Ziel ist, Autonomie, Fürsorge und Schadensminderung mit den persönlichen Bedürfnissen der Bewohnenden in Einklang zu bringen und dabei die Gerechtigkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Alle Namen wurden geändert.
Kontrollierte Alkoholabgabe
Michael Gross, 71 Jahre, wohnt seit mehreren Jahren in einem Gesundheitszentrum der Stadt Zürich. Aufgrund multipler Vorerkrankungen (Apoplexie mit Hemiparese, COPD Grad 2, arterielle Hypertonie) kann er seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum nicht mehr selbst steuern. Mit ihm wurde eine stündliche Abgabe von Wein und Zigaretten vereinbart. Herr Gross ist dadurch stets handlungsfähig. Verletzungen infolge übermässigen Alkoholkonsums sowie Spitalaufenthalte sind seither nicht mehr aufgetreten.
Selbstständige Verwaltung der Alkoholmenge
Sabine Egger, 64 Jahre, trinkt nur am Wochenende Alkohol, dann aber so viel, dass sie eine Teilhabe am sozialen Leben ablehnt. Sie bleibt am Wochenende in ihrem Zimmer und nimmt dort auch ihre Mahlzeiten ein. Diese selbstgewählte Isolation ist den Mitarbeitenden bekannt und wird respektiert. Eine Intervention vonseiten des Teams war bisher nicht nötig, da es unter Alkoholeinfluss keine Verhaltensveränderungen gibt, die eine Modifikation des bestehenden Ablaufs notwendig machten. Frau Egger nimmt somit autonom von ihrem Recht Gebrauch, risikoreich zu konsumieren.
Angepasste Verwaltung der Alkoholmenge
Karsten Sanders, 78 Jahre, möchte den Alkoholabusus überwinden und hat verschiedentlich einen Entzug in einer Klinik gemacht. Er hat bereits mehrfach eine Reduzierung der Alkoholmenge bis zur Abstinenz geschafft, steigerte den Konsum aber jeweils wieder. Herr Sanders ist unglücklich mit seiner Situation und externalisiert die Gründe für seine Abhängigkeit. So sei etwa die Depressionsdiagnose mit einhergehender reduzierter Lebensfreude Ursache für seinen Alkoholkonsum. Wir verwalten in Absprache mit ihm die Alkoholmenge, die jedoch je nach persönlichem Zustand variabel ist. Herr Sanders kann somit selbst entscheiden, in welchem Mass er von uns bei der Verwaltung unterstützt werden möchte. Die Absprachen sind für den gewählten Zeitraum verbindlich.