Fabienne Hasler (Foto) ist Ergotherapeutin und war als Leiterin Medizinische Therapien im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach tätig. Heute arbeitet sie als Betriebsleiterin im Gesundheitszentrum für das Alter Wolfswinkel. Patricia Aerni ist Physiotherapeutin und Leiterin Medizinische Therapien im Gesundheitszentrum für das Alter Käferberg.
Fabienne und Patricia, warum ist Bewegung im Alter so wichtig?
Fabienne Hasler (FH): Mit dem Alter nehmen Muskelmasse und -kraft ab. Darum bereitet es älteren Menschen beispielsweise mehr Mühe, Treppen zu steigen oder ganz allgemein ihren Alltag zu meistern. Diese Entwicklung und die damit einhergehenden Einschränkungen nennt sich Sarkopenie. Der Abbau von Muskelmasse ist Teil des natürlichen Alterungsprozesses. Er lässt sich jedoch positiv beeinflussen, was zentral ist. Denn wer sich weniger bewegt, verliert Muskelmasse. Weniger Muskelmasse bedeutet einen geringeren Energieverbrauch und dadurch weniger Appetit. Wer weniger isst, hat weniger Energie, was wiederum weniger Bewegung zur Folge hat. Es ist also ein Teufelskreis.
Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen?
FH: Mit eiweissreicher Ernährung und gezieltem Bewegungstraining kann dieser Entwicklung vorgebeugt werden – und bereits verlorene Muskelmasse lässt sich wieder aufbauen. Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die bisher kaum oder nur wenig aktiv waren, am meisten von ein bisschen mehr Bewegung profitieren. Gerade auch für unsere Bewohnenden, die viel Zeit im Sitzen verbringen, bedeutet das: Jeder Schritt zählt.
Patricia Aerni (PA): Ich möchte hinzufügen: Wenn die Bewegung limitiert ist, ist man in allen Bereichen des Lebens massiv eingeschränkt. Das ist gerade im Alter problematisch, weil Bewegungsmangel das Sturzrisiko und die Angst vor Stürzen erhöht, was diesen Teufelskreis beschleunigt. Der Sturz ist schweizweit die häufigste Unfallursache in der Freizeit: Über alle Generationen hinweg verletzen sich jedes Jahr rund 290ʼ000 Personen bei Stürzen. Vor allem bei älteren Menschen hat ein Sturz oft verheerende Konsequenzen wie Knochenbrüche oder Pflegebedürftigkeit. Besonders stark von schweren Folgen betroffen sind Menschen in Alters- und Pflegeheimen – und sie stürzen auch häufiger als die Allgemeinbevölkerung. Zu den grössten Risikofaktoren für einen Sturz im Alters- und Pflegeheimbereich zählen Muskelschwäche, ein reduzierter Gleichgewichtssinn, eingeschränkte Bewegungsfreiheit, Inkontinenz oder bestimmte Medikamente, die z. B. Schwindel verursachen können.
Gibt es Zahlen zu Sturzfolgen bei älteren Menschen?
PA: Aus der Schweiz liegen allgemeine Zahlen vor: Von den rund 1600 Personen, die jedes Jahr an den Folgen eines Sturzes sterben, sind 95 % im Rentenalter. Internationale Evidenz aus dem Alters- und Pflegeheimbereich zeigt, dass bis zu 50 % der Bewohnenden jährlich stürzen, 40 % stürzen wiederholt. 10 bis 25 % der Stürze im Alters- und Pflegeheimbereich führen zu erheblichen Verletzungen, verglichen mit 5 % bei Gleichaltrigen, die zu Hause wohnen. Mit durchschnittlich 1,7 Stürzen pro Person und Jahr ist die Sturzhäufigkeit bei Menschen in Alters- und Pflegeheimen dreimal höher als bei Gleichaltrigen, die zu Hause wohnen. Das heisst, alle Bewohnenden sind einem Sturzrisiko ausgesetzt, sodass eine Unterscheidung nach Höhe des Sturzrisikos nicht sinnvoll ist. Stattdessen liegt unser Fokus auf einer generellen Sturzprävention für alle.
Mit welchen Massnahmen lässt sich das Sturzrisiko mindern?
FH: Um Stürze zu vermeiden, sind multifaktorielle Ansätze besonders geeignet, das heisst eine Kombination aus Massnahmen wie Physio- oder Ergotherapie, Ernährung, Medikamentenmanagement und einer Anpassung der Wohnumgebung. Vor diesem Hintergrund haben die medizinischen Therapien im Gesundheitszentrum für das Alter Bombach 2023 ein ganzheitliches Programm für ältere Menschen im Quartier und unsere Bewohnenden entwickelt und durchgeführt.
Du sprichst von «Sturz ade!»?
FH: Genau. Das interprofessionelle Programm «Sturz ade!» hat sich als sehr erfolgreich erwiesen und ist auf grosses Interesse gestossen – sowohl bei den älteren Menschen selbst als auch an Fachkongressen. Die Auswertung anhand von SPPB (Short Physical Performance Battery) und FES-I (Falls Efficacy Scale) zeigte, dass die meisten Teilnehmenden profitierten, ihre Sturzangst abnahm und sich ihr Gleichgewicht verbesserte. Ein weiterer positiver Aspekt war die Möglichkeit zur sozialen Interaktion. Es hat sich zum Beispiel eine Gruppe gebildet, die nun regelmässig zum Mittagessen herkommt und Bewohnende besucht. Ganz im Sinne der Altersstrategie 2035 der Stadt Zürich dient das Gesundheitszentrum als Begegnungsort im Quartier. (Mehr Informationen zum Programm «Sturz ade!» im Kästchen unten.)
Bei dem Projekt wurde auch die Ernährungsberatung einbezogen, richtig?
FH: Ja, die Ernährung ist ein wichtiger Faktor für die Sturzprävention und ganz allgemein für ein gesundes Altern. Nicht umsonst nennt das DemCare-Konzept, das sich mit der personenzentrierten Demenzpflege für Menschen in Langzeitinstitutionen befasst, die Ernährung als einen von sechs Grundsätzen. Das Konzept wurde in den Pflegezentren der Stadt Zürich, also der Vorgängerinstitution der Gesundheitszentren, entwickelt. In den Gesundheitszentren versuchen wir, unsere Bewohnenden, die Pflegefachpersonen und die Mitarbeitenden aus der Hotellerie für das Thema zu sensibilisieren. Wir ermutigen die Bewohnenden zum Beispiel, ihre Mahlzeit nicht mit Suppe oder Salat, sondern mit der Hauptspeise zu beginnen. Sonst ist oftmals kein oder nur wenig Appetit für den Hauptgang übrig. Das wäre aber wichtig, da gerade dieser häufig eiweissreicher ist.
Kann man sagen, dass die Muskelmasse einen direkten Einfluss auf das Wohlbefinden im Alter hat?
PA: Ja. Ab dem 50. Lebensjahr nimmt die Skelettmuskelmasse pro Jahr um 1 bis 2 % ab und der Proteinbedarf steigt. Bis 50 % der über 80-Jährigen haben bereits rund 40 % ihrer Muskelmasse verloren. Wer diesen Entwicklungen nicht bewusst entgegenwirkt, baut gesundheitlich ab. Diese Tatsache ist insbesondere auch für unsere Bewohnenden wichtig, da zunehmendes Alter mit sinkender körperlicher Aktivität und einem erhöhten Risiko für Sarkopenie einhergeht. Die Arbeit der medizinischen Therapien setzt hier an. Der verhältnismässig hohe Anteil an präsarkopenen Bewohnenden und das Wissen darum bietet uns die Möglichkeit einer gezielten Sarkopenieprävention. So können wir die körperlichen Veränderungen im Alter verzögern, Muskulatur, Knochen und Gelenke stärken sowie kognitive Funktionen wie beispielsweise das Gedächtnis positiv beeinflussen.
Das Gehirn profitiert auch von Bewegung?
PA: Absolut. Es ist erwiesen, dass die Kombination von Denkaufgaben und Bewegung, also motorisch-kognitives Training, für die Gesundheit am förderlichsten ist und eine effektive Massnahme zur Sturzprävention darstellt. In den Gesundheitszentren arbeiten wir darum unter anderem mit verschiedenen Therapiegeräten, die speziell auf ältere Menschen ausgerichtet sind. Die Bewohnenden nutzen diese Geräte in der Regel während der Therapie, teilweise in Begleitung einer Fachperson oder auch selbstständig.
Das Training findet nicht nur im Rahmen der Therapie statt?
FH: Nein, Bewegung ist so zentral, dass sie von allen Berufsgruppen in den Gesundheitszentren gefördert werden muss und wird. Wer lediglich ein bis zweimal pro Woche Therapie erhält und sich ansonsten wenig bewegt, profitiert nur gering. Damit die Bewohnenden den grösstmöglichen Nutzen haben, braucht es uns alle: Bewegung ist ein interprofessionelles Thema. Es geht darum, die therapeutischen Massnahmen in den Alltag zu übertragen. Zudem haben Bewegung und eigenständiges Training einen positiven Effekt auf die Autonomie und Selbstbestimmung unserer Bewohnenden.
Wie viel Bewegung braucht ein älterer Mensch?
PA: Hier lauten die Vorgaben, 150 bis 300 Minuten moderate Bewegung pro Woche in Form von Alltagsaktivitäten oder 75 Minuten Sport oder Bewegung mit hoher Intensität. Das gilt übrigens für jüngere und ältere Menschen gleichermassen. Es lohnt sich in jedem Alter, mit dem Training anzufangen. Erfolge zeigen sich vor allem am Anfang schnell. Was erfreulich ist: Die Trainierbarkeit von Muskeln ist auch im hohen Alter noch gegeben. Jede Bewegung ist gut für die Gesundheit. Auch wenn ein Grossteil unserer Bewohnenden diese Empfehlungen nicht erreichen, ist es wichtig, aktiv zu sein. Dazu gehört beispielsweise, langandauerndes Sitzen zu begrenzen und regelmässig mit Bewegung zu unterbrechen. Schon ein kleiner Spaziergang pro Tag zählt. Unseren Bewohnenden erklären wir jeweils, dass Bewegung einen positiven Effekt auf ihre Gesundheit hat, wenn sie ein bisschen ins Schnaufen oder Schwitzen kommen. Wir nennen dies «Bewegungssnacks». Seit der Aktionswoche zu den neuen Bewegungsempfehlungen für ältere Menschen Anfang September 2023 sind sie in aller Munde.
Wie schafft ihr es, dass sich die Bewohnenden genügend bewegen?
PA: Förderlich ist sicher, wenn jemand ein Ziel hat. Eine Bewohnerin bei uns feierte zum Beispiel jedes Jahr mit ihrer Schwester Weihnachten. Um die Treppenstufen zum Haus der Schwester zu schaffen, hat sie jeweils das ganze Jahr trainiert. Damit auch Bewohnende einen Anreiz für Bewegung haben, denen ein konkreter Grund fehlt, haben wir uns im Gesundheitszentrum für das Alter Käferberg an der Initiative «Hospital in Motion» orientiert. Die Initiative will Patient*innen im Spital dazu anregen, weniger Zeit im Bett zu verbringen und sich mehr zu bewegen. Es ist eine Tatsache, dass Menschen in einer Institution in der Regel zu passiv sind und selten an ihre Grenzen gehen. Wer über längere Zeit liegt, verliert bereits nach einer Woche rund 10 % der Muskelmasse und 30 % der Muskelkraft. In Anlehnung an die Initiative «Hospital in Motion» haben wir bei uns einen Parcours mit Bildern erstellt, zu denen man Fragen beantworten kann, während man von Bild zu Bild geht. Es geht also nicht primär um grosse Aktionen, sondern um kleine Gesten.
FH: Auch hier kann ich die Wichtigkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit nicht genug betonen. Es braucht von allen Mitarbeitenden den Willen, die Bewohnenden in ihrem jeweiligen Bereich zu motivieren und zu aktivieren. Das setzt Verhandlungsgeschick, Überzeugungskraft und vor allem auch eine tragfähige Beziehung voraus. Neben der Bewegung und der Ernährung ist auch der soziale Aspekt, das menschliche Miteinander, wichtig für ein gutes Altern und kann einen Anreiz für mehr Aktivität im Alltag schaffen.
Wie fördert ihr die interprofessionelle Zusammenarbeit in Bezug auf die Bewegung?
FH: Monatlich findet ein interprofessioneller Rapport (mit Pflege, Arztdienst und Therapien) statt, bei dem wir uns über die aktuelle Situation der einzelnen Bewohnenden austauschen. Wir stimmen Behandlungsschwerpunkte ab, diskutieren Ziele und besprechen die Integration von Massnahmen in den Alltag über die Professionen hinweg. Der 1:1-Austausch mit dem interprofessionellen Behandlungsteam ist sehr wertvoll und zentral, um die optimale Lösung für jede Bewohnerin und jeden Bewohner zu finden.
PA: Für die Studierenden aus Physio- und Ergotherapie sowie Pflege organisieren wir zudem zweimal im Jahr interprofessionelle Lerntage. Am Vormittag besuchen sie einen Theorieinput, am Nachmittag wenden sie das Gelernte gemeinsam an. Diese Lerntage werden von unseren Studierenden sehr geschätzt. Und sie haben den positiven Effekt, dass sie die Wichtigkeit der interprofessionellen Zusammenarbeit bereits während der Ausbildung aufzeigen und festigen – und die Freude daran vermitteln.
Wie sieht die Zusammenarbeit in der Akut- und Übergangspflege aus?
PA: Hier wird besonders intensiv interprofessionell zusammengearbeitet. Die Patient*innen treten mit dem Ziel ein, ihre Mobilität und Alltagsfähigkeit möglichst rasch zu verbessern. Wir arbeiten mit einem rehabilitativen Auftrag und wollen eine bestmögliche Selbstständigkeit in den Aktivitäten des täglichen Lebens erreichen. Zu diesem Zweck legen wir gemeinsam mit der betroffenen Person und ihrem Umfeld individuelle Ziele fest. Im wöchentlichen Rapport trifft sich das interprofessionelle Team zur Standortbestimmung. Dank der täglichen Einzel- und/oder Gruppentherapie (Physio- und/oder Ergotherapie) sowie einer aktiven Förderung der Bewegung durch alle Beteiligten erreichen rund 60 % der Patient*innen ihr Ziel und können in ihr Zuhause zurückkehren.
Dieser Beitrag ist in NOVAcura, der Schweizer Fachzeitschrift der Pflege, erschienen.
Die medizinischen Therapien des Gesundheitszentrums für das Alter Bombach haben im Rahmen eines Pilotversuchs zusammen mit den Verkehrsbetrieben Zürich (VBZ) und der Ernährungsberatung des Stadtspitals Zürich das interprofessionelle Sturzpräventionsprogramm «Sturz ade!» ins Leben gerufen. Im Rahmen eines Kurses werden Bewohnenden und Interessierten aus dem Quartier Übungen und Tipps zur Sturzprävention vermittelt.
Der Fokus des Programms liegt auf der Erhaltung von Gleichgewicht und Kraft durch das praktische Erproben in Alltagssituationen. An neun Abenden lernten die Teilnehmenden unter anderem, was der Sturzkreislauf umfasst, welche Übungen sie machen können, um ihr Gleichgewicht und ihre Kraft zu stärken, welche Notrufknöpfe und anderen Alltagshelfer es gibt und wie sie sich vom Boden wieder selbst aufrichten können, wenn es doch einmal zu einem Sturz kommt. Alle Teilnehmenden erhielten nach dem Kurs zudem ein auf sie abgestimmtes Heimprogramm. Aufgrund des grossen Erfolgs wurde das Programm 2024 bereits zum zweiten Mal durchgeführt.