Dieses Interview mit Gaby Bieri und Tatjana Meyer-Heim ist am 27. Oktober 2025 im Tages Anzeiger erschienen. Autorin ist Ev Manz.
Altersmedizin gewinnt zunehmend an Bedeutung. Die Bevölkerung wird älter, der Bedarf nach Langzeitpflege steigt – gerade in der Stadt Zürich. In den städtischen Gesundheitszentren für das Alter stehen für die stationäre Langzeitpflege knapp 3300 Betten zur Verfügung.
Gaby Bieri-Brüning wurde 2012 die erste weibliche ärztliche Direktorin der Gesundheitszentren und engagiert sich seit 30 Jahren in der Fachrichtung Altersmedizin. Mit Tatjana Meyer-Heim folgt nun auf dem Posten wieder eine Frau.
Sie beide sind Geriaterinnen. Ein Beruf, der für viele abschreckend tönt. Für Sie, Gaby Bieri, ist er seit 30 Jahren Passion. Warum?
Gaby Bieri: Ich erzähle Ihnen dazu eine Geschichte: Wenn ich jeweils nach meinem Beruf gefragt wurde und sagte, ich bin Ärztin, war der Ausdruck auf dem Gesicht des Gegenübers positiv. Sagte ich, dass ich in einem Pflegeheim arbeite, änderte er sich schlagartig. «Ja, das ist sicher nicht einfach. Die sterben ja alle», sagte das Gegenüber oft. Uns hängt ein negatives Image an. Auch ich hätte beim Berufseinstieg nie gedacht, dass es mir in der Geriatrie derart den Ärmel reinzieht.
Was macht für Sie die Faszination dieser Fachrichtung aus?
Bieri: Sie bietet das, wofür viele Medizin studieren: Sie wollen helfen. Geriatrie ist eine ganzheitliche, medizinisch-klinische Fachrichtung. Wir untersuchen nicht nur ein Organ, sondern den ganzen Menschen, arbeiten individualisiert und weniger nach Checklisten als andere medizinische Fachgebiete.
Sie sagten einmal, sie würden nicht heilen. Wie meinen Sie das?
Bieri: In der Geriatrie ist der Fokus anders. Wir helfen, die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten möglichst lange zu erhalten. Ein Beispiel: In Gesprächen mit Assistenzärzten fragen wir jeweils: «Ein 95-jähriger Patient mit 20 Diagnosen. Nach was gewichten Sie?» Wer im Spital sozialisiert wurde, nennt oft zuerst die gefährlichste Diagnose, die zum Tod führen könnte. Behandlungsrelevant sind für eine Person in diesem Alter jedoch Faktoren, die ihre Lebensqualität beeinträchtigen – etwa Schmerzen.
Und ich vermute auch, Sie mögen alte Menschen.
Bieri: Ich liebe alte Menschen. Sie haben etwas zu erzählen. In der Langzeitgeriatrie betreuen wir Menschen über eine längere Zeit. Das ermöglicht mehr Beziehungsaufbau als in anderen Fachrichtungen. Und der ist wichtig, weil 80 Prozent unserer Patientinnen und Patienten Demenz haben. Nur wer sie kennt, kann interpretieren, wie es ihnen geht.
Frau Meyer, wie kamen Sie zur Geriatrie?
Tatjana Meyer: Ich arbeitete zuerst in der Anästhesie. Dabei merkte ich, dass mir persönlich die Kommunikation mit den Menschen und die Kontinuität in der Behandlung fehlten.
Was fasziniert Sie an der Fachrichtung?
Meyer: Wir hören oft lange Lebensgeschichten und haben mit Personen in einem Lebensabschnitt zu tun, in dem ihre Fassade bröckelt. Und doch schenken sie uns Vertrauen. Das ermöglicht einen Beziehungsaufbau, der die weitere Behandlung erleichtert. Das ist in dem Sinne auch Sozialmedizin und enthält auch eine psychische Komponente.
Haben Sie überhaupt die Zeit, so auf Ihre Patientinnen und Patienten einzugehen?
Meyer: Natürlich stehen wir unter ökonomischem Druck, aber bei unserer Zielgruppe können wir nichts erzwingen. Die ganzheitliche Betrachtung braucht Zeit; diese Herangehensweise ist das Skalpell, also das Hauptwerkzeug, der Geriatrie.
Bieri: Wir beziehen ja auch oft Angehörige mit ein. Diese Gespräche brauchen Zeit. Dieses Systemische macht es aber spannend.
Was hat sich in ihrer Karriere verändert, Frau Bieri?
Bieri: Es liegen Welten zwischen Mitte 1990 und heute. Damals mussten ältere Menschen ein halbes Jahr auf ein Pflegebett in einer Institution warten und blieben dann mehrere Jahre dort. Heute wollen alte Menschen so lange wie möglich zu Hause bleiben. Mit dem Ausbau der Spitex ist das auch möglich. Heute können wir die Menschen innerhalb von 24 Stunden aufnehmen, die Pflegebedürftigkeit ist höher, durchschnittlich sind die Menschen beim Eintritt 85 Jahre alt. Und: Wir sind spezialisierter geworden.
Worin liegt die Spezialisierung?
Bieri: Die Geriatrie als Schwerpunkttitel gibt es in der Schweiz erst seit dem Jahr 2000. Seitdem macht man die umfassenden geriatrischen Untersuchungen. Das heisst, wir prüfen bei einem Sturz im Alter immer systematisch viele Aspekte als mögliche Ursachen: Mangelernährung, kognitive Einschränkungen oder auch psychische Symptome wie Depression. Mit diesem Wissen kann man prophylaktisch weiteren Stürzen vorbeugen. Deshalb funktionieren Checklisten, wie sie bei jüngeren Menschen angewendet werden, bei älteren nicht.
Meyer: Die Haltung der Ärztinnen ist heute personenzentrieter. Wir gehen auf die Bedürfnisse der Menschen besser ein. Und gleichzeitig ist Geriatrie gesellschaftlich anerkannter. Als ich als Ärztin angefangen habe, hat man Menschen in der Sterbephase ins Badezimmer gebracht. Man glaubte, so hätten sie Ruhe.
Heute wäre das unvorstellbar.
Bieri: Die Pflege ist heute allgemein besser geschult, etwa auch im Bereich Demenz.
Meyer: Und: Die Prävention ist viel wichtiger geworden. Uns geht es darum, bei alten Menschen die Krankheiten möglichst aufzuschieben und nicht primär darum, ihnen eine möglichst lange Lebensdauer zu ermöglichen.
Was halten Sie denn vom Longevity-Trend?
Meyer: Longevity ist zunächst ein Businessmodell. Durch die Forschung in Zürich und Basel bekommt es nun eine wissenschaftliche Grundlage.
Bieri: Ich bin nicht sicher, ob wirklich alle lang leben wollen oder ob sie nicht einfach möglichst gut leben wollen.
Wie meinen Sie das?
Bieri: Die Chance ist gross, bis 80 fit zu bleiben. Danach steigt das Risiko für Alterserkrankungen.
Inwiefern hat Longevity einen Einfluss auf Ihre Disziplin?
Bieri: Kaum, wenn man erst mit 80 damit beginnt. Aber wer sich früh im Sinne von Lonevity genügend bewegt, soziale Kontakte pflegt und sich vernünftig ernährt, tut präventiv viel Gutes, um alt zu werden.
Meyer: Die Frage ist, wen Longevity anspricht. Sind es nicht jene, die ohnehin ein gutes Gesundheitsbewusstsein haben und es sich leisten können? Sozial schwächere Bevölkerungsgruppen können kaum davon profitieren. Wir müssten das gesund Altern demokratisieren.
Hat sich das Gesundheitsbewusstsein nicht generell verbessert?
Bieri: Bei vielen, ja. Aber das macht es für uns teilweise auch schwierig.
Inwiefern?
Bieri: Wenn zum Beispiel eine Tochter darauf pocht, dass ihre betagte Mutter täglich Rohkost isst. Das mag in jungen Jahren gesund sein, aber nicht ab 85. Da braucht der Körper Eiweiss, Eiweiss und nochmals Eiweiss. Mehr als zuvor.
Warum?
Bieri: Um den Muskelabbau zu verhindern. Bekommt er es nicht, entnimmt er es der Muskulatur, und die wird geschwächt. So kann eine Person stürzen, weil sie eine Eiweissmangelernährung hat.
Sie haben beide an Memory-Kliniken für Menschen mit Demenz gearbeitet. Täuscht der Eindruck oder haben tatsächlich mehr Menschen Demenz?
Meyer: Es gibt mehr diagnostizierte Demenzen. Aber: Die Hälfte der Demenzen wird nicht festgestellt. Die geistige Fähigkeit verschlechtert sich langsam und wird nicht bemerkt. Und viele glauben, man könne Demenz nicht heilen.
Kann man?
Meyer: Es gibt Möglichkeiten, Demenz zu stabilisieren. Das gibt Betroffenen und Angehörigen Zeit, mit der Krankheit umzugehen.
Gesellschaftlich ist Demenz aber auch in Zürich noch immer tabuisiert.
Bieri: Da braucht es tatsächlich noch Aufklärungsarbeit. Angehörige müssen wissen, dass beispielsweise eine körperliche Kontaktaufnahme im Umgang helfen kann.
Meyer: Wobei ich immer sage: Für Leute im Alter ist die Stadt Zürich schon sehr gut aufgestellt.
Wo sehen Sie denn die Herausforderungen in Ihrer Position, Frau Meyer?
Meyer: Der spezialisierte Nachwuchs fehlt. Es gibt in der Schweiz nicht genügend Geriaterinnen und Geriater. Das zu verbessern, sehe ich als eine meiner Aufgaben.
Wie möchten Sie beide alt werden?
Bieri: Ich möchte nicht unbedingt 100 Jahre alt werden und habe keine Angst vor Demenz und Abhängigkeit.
Meyer: Als Geriaterin habe ich Dankbarkeit gelernt. Ich weiss: Was kommt, wird nicht mehr gleich sein. Die Neugierde und die sozialen Kontakte möchte ich bewahren.
Ev Manz ist Redaktorin im Ressort Zürich und mitverantwortlich für die Online-Inhalte. Sie schreibt über Schul- und Familienthemen sowie Architektur und betreut die Nachruf-Serie.