Monika Eigler, Leiterin Pflegedienst, Marcel Meier, Beauftragter Palliative Care, und Christine Hänsel, Leiterin spezialisierte Palliative-Care-Abteilung (v. l. n. r.), sind im Gesundheitszentrum für das Alter Mattenhof tätig und haben dort den Bereich Palliative Care massgeblich weiterentwickelt und geprägt. Im Gespräch erklären sie, was sich seit den Anfängen im Jahr 2010 verändert hat und wie sie Herausforderungen meistern.
Was sind die wichtigsten Veränderungen seit 2010?
Monika Eigler (ME): Wir hatten 2010 in einer Projektgruppe definiert, wie wir die Qualitätsparameter für Palliative Care umsetzen, die von den ehemaligen Pflegezentren der Stadt Zürich erarbeitet worden waren. Die grösste Errungenschaft seither ist sicher, dass wir ein gemeinsames Verständnis aufgebaut haben, was Palliative Care ausmacht. Das ist aber nicht der Verdienst der Projektgruppe allein, sondern die Leistung aller 400 Mitarbeitenden, die dahinterstehen. Es ist uns gelungen, von der Küche über den Arztdienst bis zur Hauswirtschaft alle mitzunehmen, sodass dieses gemeinsame Verständnis von jeder und jedem Einzelnen gelebt wird. Zudem haben wir uns fachlich weiterentwickelt, zum Beispiel Marcel mit seiner Weiterbildung.
Marcel Meier (MM): Genau, ich habe im August 2017 den Master of Advanced Studies (MAS) in Palliative Care in St. Gallen abgeschlossen und bin seither Beauftragter Palliative Care im Gesundheitszentrum Mattenhof. In dieser Funktion bin ich fachliche Ansprechperson für alle Bereiche im Mattenhof.
Wie habt ihr euch fachlich entwickelt?
Christine Hänsel (CH): Wir haben zum einen die interprofessionelle Zusammenarbeit gestärkt, unter anderem mit Instrumenten wie SENS, Total Pain und SPICT (s. zweites Kästchen unten). So entwickelten wir eine einheitliche Sprache bei Fachgesprächen. Eine Pain Nurse unterstützt den Arztdienst und die Pflege bei Fragen zur Schmerzbehandlung und ein Fachbeauftragter Geriatrie fördert die pflegerische Qualität, unter anderem, um unnötige Spitaleinweisungen zu verhindern. Das sind nur einige Beispiele der fachlichen Weiterentwicklung.
Die interprofessionelle Zusammenarbeit ist in der Palliative Care zentral. Wo seht ihr die grössten Hürden?
EM: Eine grosse Herausforderung ist sicher, die Dokumentation so zu gestalten, dass alle involvierten Stellen rasch einen Überblick haben. Dafür haben wir im Gesundheitszentrum Mattenhof ein niederschwelliges Dokument entwickelt – das Protokoll für interprofessionelle Fachgespräche –, welches übersichtlich die wichtigsten Angaben wie etwa zu Symptomen, Verhalten, Massnahmen, Netzwerk und individuellen Bedürfnissen abbildet. Die Dokumentation muss leicht zugänglich sein, damit man sich schnell einlesen kann. Das ist umso wichtiger, als die Aufenthaltsdauer auf allen Stationen deutlich gesunken ist und Zeit ein wichtiger Faktor ist. Die Angaben fliessen dann ins übergeordnete System easyDOK.
MM: Was ebenfalls wichtig ist und uns sehr gut gelingt, ist die Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Alle Berufsgruppen haben ihre eigene Expertise. Indem wir Interprofessionalität leben, profitieren wir vom gesamten vorhandenen Wissen und Know-how. Wenn zum Beispiel einer Mitarbeiterin aus der Hauswirtschaft etwas auffällt, stellt sie kritische Fragen, denen nachgegangen wird. Die Pflege ist nicht allein für die Bewohnenden verantwortlich: Alle Mitarbeitenden leisten einen Beitrag dazu, dass es gut läuft. Wir haben über die Jahre eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Verständnis aufgebaut, an denen wir alle gewachsen sind.
Wie seid ihr dabei vorgegangen?
ME: Wir setzen uns stetig mit dem Thema auseinander und entwickeln uns weiter. Früher dachte man, Palliative Care können alle. Aber da steckt sehr viel dahinter. Man darf als Organisation nicht lockerlassen und muss am Thema dranbleiben. Bei uns besuchen alle Mitarbeitenden aus allen Bereichen eine Grundschulung zum Thema Palliative Care. Wer in der Pflege arbeitet, hat zudem einen Transferauftrag für die Praxis – ein Ziel, das umgesetzt wird. Das können vermeintlich einfache Dinge sein, wie zum Beispiel die Tatsache, dass wir unsere Hand nicht auf die Hand der Bewohnenden legen, sondern darunter. So haben sie die Möglichkeit, die Hand wegzuziehen. Oder aber wir führen die Mundpflege mit dem Lieblingsgetränk der Bewohnerin durch.
Ethik ist ein grosses Thema in der Palliative Care. Wie integriert ihr ethische Fragen?
MM: Palliative Care kann nicht ohne Ethik betrachtet werden. Wenn die Mitarbeitenden diesbezüglich nicht abgeholt werden, kann das ein Belastungsfaktor sein. Für den Austausch haben wir darum drei Gefässe. Im interprofessionellen Ethik-Forum, das viermal im Jahr tagt, werden Fallvignetten besprochen. Alle Teilnehmenden können Fragen einbringen. Es geht zum Beispiel um Themen wie «Notlügen ja oder nein?» Zu grösseren Themen erstellen wir eine Leitlinie, um unsere gemeinsame Haltung festzuhalten. Das Ethik-Café, das von einem externen Ethiker geleitet wird, ist eine Plattform für ungezwungene Diskussionen im Plenum, zum Beispiel zum Thema Ekel. Zudem haben wir eine Interventionsgruppe, die zusammenkommt, wenn für eine Situation sofort eine breit abgestützte Lösung gefunden werden muss.
Wie gehen die Studierenden mit dem Thema Palliative Care um?
CH: Palliative Care in der Langzeitpflege hat stark an Akzeptanz und Wertigkeit gewonnen, und die Professionalisierung ist vorangeschritten. Viele Studierende möchten in der Palliative Care arbeiten, weil sie bei uns Dinge lernen, die sonst in der Langzeitpflege eher nicht im Fokus stehen. Zum Beispiel in Bezug auf medizinaltechnische Verrichtungen. Wer Erfahrung in der Palliative Care hat, ist gefragt. Um die Lernenden und Studierenden bei möglichen Belastungen gezielt abzuholen, haben wir für sie ein eigenes Austauschgefäss geschaffen, in dem sie ihre Rolle reflektieren können und besprechen, was sie allenfalls im Alltag belastet.
Welcher Faktor ist für die Arbeit in der Palliative Care besonders wichtig?
EM: Die Teamkonstellation. Dass man als Team füreinander einsteht und füreinander da ist. Wir investieren viel in die Fachlichkeit, darüber dürfen die Menschen, die ein Team ausmachen, auf keinen Fall vergessen gehen. Supervision und Führung mit klaren Rahmenbedingungen sind zentral, damit die Mitarbeitenden sich wohlfühlen und ihre Arbeit bestmöglich ausführen können.
Ihr habt neben der allgemeinen Palliative Care eine spezialisierte Abteilung (s. erstes Kästchen unten), worin liegt der Unterschied?
CH: Die Bewohnenden auf der spezialisierten Abteilung kommen in der Regel direkt aus dem Spital zu uns. Es sind zum Teil auch jüngere Menschen mit unheilbaren Erkrankungen, die auf eine komplexe Betreuung angewiesen sind. Sie sind viel kürzer bei uns, zwischen zwölf Stunden und sechs Monaten. Manche von ihnen haben den grossen Wunsch, zu Hause zu sterben. Wir versuchen dann nach Möglichkeit, diesem Wunsch zu entsprechen und sie so weit zu stabilisieren, dass sie mit einer spezialisierten Betreuung, etwa durch die Spitex, nach Hause gehen können.
MM: Wenn ein Bewohner nach Hause möchte, besprechen wir im interprofessionellen Rapport mit Sozial- und Arztdienst sowie Therapien, was es dazu braucht. Je nachdem findet auch ein Standortgespräch mit der Spitex statt. Das Netzwerk und der Zeitfaktor sind in solchen Fällen besonders wichtig. Wir schätzen dann gemeinsam ein, was realistisch ist. Manchmal muss der Bewohner jedoch erfahren und akzeptieren, dass sein Wunsch nicht umsetzbar ist.
Woran arbeitet ihr gerade?
MM: Wir haben in letzter Zeit sehr viele Weiterentwicklungen umgesetzt und befinden uns derzeit in einer Phase der Konsolidierung. Medizin und Pflege sind enormen Veränderungen ausgesetzt. Es ist darum wichtig, eine Balance zu finden: d. h. nicht alles auf einmal umsetzen zu wollen und die Abteilungen damit zu überlasten, aber trotzdem keine Entwicklungen zu verpassen. Dafür braucht es gute Absprachen und eine Gesamtübersicht.
ME: Wir wissen aus den Abteilungen, dass es Zeit braucht, bis neue Ansätze ihren Weg in den Pflegealltag finden und nachhaltig verankert sind. Deshalb machen wir jedes Jahr eine Aufstellung der Pflegeprojekte und sorgen so dafür, dass Neuerung gestaffelt eingeführt werden. Die Abteilungen teilen sich ihre Aufgaben zeitlich selbst ein. So ist für alle Beteiligten ersichtlich, was im Team gerade geplant ist, und allfällige weitere Aufgaben sowie Themen können zeitlich besser platziert werden.
CH: Die Mitarbeitenden auf der Abteilung schätzen dieses Vorgehen sehr, weil sie genau wissen, was wann kommt. Pflegediagnostik, Schmerz, medizinische Qualitätsindikatoren, Ernährung, SENS vertiefen: Es sind sehr viele Themen, sodass es wichtig ist, eine Systematik reinzubringen.
Mit welchem falschen Verständnis zu Palliative Care würdet ihr gerne aufräumen?
ME: Mit der Meinung, Palliative Care sei nur Sterbebegleitung. Das stimmt nicht. Es geht darum, sich mit einer Situation auseinanderzusetzen und die Lebensqualität zu erhalten. Man kann unter Umständen 15 Jahre lang unter dem Aspekt Palliative Care leben – es betrifft nicht nur die letzten Tage oder Stunden.
CH: Darum ist essenziell, dass frühzeitig angesprochen wird, was der Person wichtig ist. Idealerweise fangen die Gespräche bereits im Spital an. Es ist dann am ärztlichen Dienst und auch der Pflegepersonen, die Fakten zusammenzutragen sowie Möglichkeiten und Grenzen aufzuzeigen.
MM: Es hat nur Vorteile, darüber zu reden. So können Betroffene Dinge regeln und ihre Zeit selbstbestimmt und nach den eigenen Vorstellungen gestalten. Wir legen grossen Wert darauf, mit den Angehörigen im Austausch zu sein und sie mit auf den Weg zu nehmen.
Das Gesundheitszentrum Mattenhof gehört zu den vier Betrieben in der Region Zürich, die mit dem Label «Qualität in Palliative Care» zertifiziert sind. Neben der allgemeinen Palliative Care der Langzeitpflege verfügt das Gesundheitszentrum auch über eine Abteilung mit spezialisierter Palliative Care in sozial-medizinischen Institutionen mit Palliative-Care-Auftrag.
Spezialisierte Palliative-Care-Abteilung
Sie richtet sich an Menschen mit unheilbaren oder fortschreitenden Erkrankungen, die aufgrund komplexer gesundheitlicher Probleme auf die aufwendige Betreuung durch ein interprofessionelles Team angewiesen sind und eine 24-Stunden-Präsenz von Fachpersonen benötigen. Manchmal können die Symptome aber auch so weit stabilisiert werden, dass eine Rückkehr in einen Wohnbereich mit allgemeiner Palliative Care oder nach Hause möglich ist.
- SENS: ein praktisch orientiertes Raster zur Erfassung, Therapieplanung und Evaluation bei chronisch fortschreitenden und lebenslimitierenden Krankheiten, mit dem auch im Spital gearbeitet wird
- Total Pain: ein Konzept zur Schmerztherapie, das neben dem körperlichen Schmerz auch die psychischen, sozialen und spirituellen Dimensionen berücksichtigt
- SPICT: ein Instrument, das auf klinischen Indikatoren basiert und Patient*innen identifiziert, die von einer palliativen Betreuung profitieren könnten