Rahel Mauchle ist Fachexpertin Demenz, René Buchmann ist Fachexperte Psychiatrie im Gesundheitszentrum für das Alter Entlisberg. Der Betrieb umfasst unter anderem verschiedene gerontopsychiatrische Abteilungen. Brenzligen Situationen adäquat zu begegnen und den Mitarbeitenden die dafür notwendige Sicherheit zu vermitteln, ist darum besonders wichtig und will geübt sein.
Gemeinsam mit der Bildungsverantwortlichen, Ursula Gubler, bieten die beiden im Betrieb niederschwellige Trainings an und zeigen anhand von Rollenspielen Situationen und mögliche Reaktionen auf. Ihren Ansatz haben sie am diesjährigen SBK-Kongress vorgestellt und im Rahmen eines Workshops mit interessierten Teilnehmenden geprobt.
Rahel und René, wie kam es dazu, dass ihr Trainings zum Umgang mit brenzligen Situationen anbietet?
Rahel Mauchle (RM): An einer Fachtagung Demenz bei uns im Betrieb kam die Frage auf, wie wir mit Situationen, bei denen Aggression im Spiel ist, umgehen. René ist Trainer Aggressionsmanagement und führt regelmässig Refresher und andere Schulungen durch. So kam es zur Zusammenarbeit. Mit den niederschwelligen Trainings wollten wir einen Raum schaffen, in dem herausfordernde Situationen gemeinsam angeschaut werden und der Umgang damit geübt werden kann.
René Buchmann (RB): Ich spreche gerne von Trainieren. Die Bewohnenden «trainieren» uns im Alltag manchmal sehr: Sie zeigen uns auf, wo wir als Organisation üben müssen, um noch sicherer zu werden. Im Gegensatz zum Alltag sind die Trainings, die wir anbieten, spielerisch. Wir sammeln gemeinsam Erfahrungen, testen, wie sich etwas anfühlt und werden im Optimalfall sicherer.
Wie gehen Mitarbeitende vor, die eine brenzlige Situation erleben und diese in einem Training üben möchten?
RB: In brenzligen Situationen können die Mitarbeitenden jederzeit auf uns zukommen. Wenn es sein muss, sind wir in ein paar Minuten bei ihnen. Das ist wichtig, damit sie sich getragen fühlen. Für die Trainings stellen wir uns alle zwei bis drei Monate für eine Stunde zur Verfügung. Die Termine werden allen Mitarbeitenden kommuniziert. Neben Rahel und mir ist auch Ursula Gubler, die Bildungsverantwortliche, dabei. Sie moderiert die Trainings, gibt ihnen einen Rahmen und eine Struktur und fasst die Erkenntnisse in Form von Take-Home-Messages zusammen.
Für wen sind die Trainings gedacht?
RB: Für alle Mitarbeitenden aller Stufen und Professionen, die Interesse daran haben. Wer teilnehmen möchte, ist herzlich eingeladen.
Wie laufen die Trainings ab?
RM: Wir greifen Situationen aus dem Alltag auf und üben anhand von Rollenspielen mögliche Handlungsoptionen. Im Moment ist es noch meistens so, dass René den Pfleger spielt und ich den Bewohner. Ich bin dann zum Beispiel ein Bewohner, der raus möchte, den man aber nicht lässt.
RB: Wenn ich als Pfleger in so einer Situation einschränke, eskaliert es. Wenn ich hingegen zum Beispiel die Lifttür aufmache und dem Bewohner Bestätigung gebe, geht die Spannung raus. Die Situation ändert sich um 180 Grad, es herrscht Frieden statt Kampf. Zum Teil braucht es nur sehr wenig, um eine potenziell heikle Situation zu entschärfen. Manchmal muss man die Leute gehen lassen oder ihrer Wut Raum geben. Das möchten wir bei den Trainings aufzeigen. Dabei geht es uns immer darum die Situation zu verändern, nicht den Menschen.
Rahel, wie erlebst du den Perspektivenwechsel, die Rolle des Bewohners?
RM: Mich in die jeweilige Emotion hineinzufühlen und zum Beispiel die Einschränkung zu spüren, macht etwas mit mir. Das ist eine sehr lehrreiche Erfahrung. Ich spüre zum Beispiel auch Renés Anspannung 1:1. Das Verbale, aber vor allem auch das Nonverbale sind wahrnehmbar. Dessen müssen wir uns stets bewusst sein.
RB: Situationen in diesem Rahmen zusammen auszuprobieren, ist eine Chance. Wir können Themen spielerisch angehen. In Situationen mit Bewohnenden gilt es ernst, dann können wir nicht ausprobieren, wie es sich anfühlt. Dann wollen wir kompetent und sicher sein.
RM. Dieses Vorgehen ist auch sehr wertvoll für die Psychohygiene. Es ist entlastend, wenn man Erfahrungen miteinander teilen kann. Allein oder im Team kommt man manchmal mit einer Situation einfach nicht mehr weiter.
Beteiligen sich auch die Mitarbeitenden an den Rollenspielen?
RB: Wir möchten, dass sich das dahin entwickelt. Das Format läuft nun seit ungefähr einem Jahr. Im Moment sind vor allem wir am Zug, im Optimalfall sind wir irgendwann nur noch im Hintergrund. Wir drängen aber niemanden zum Mitmachen: Die Teilnehmenden sind frei und bestimmen selbst, wie sie sich einbringen wollen.
RM: Uns ist wichtig zu vermitteln, dass es bei unserer Trainingsstunde keine Tabus gibt. Alles ist willkommen und hat eine Berechtigung. Wir bewerten nicht. Wir wissen auch nicht alles, denn es gibt kein Richtig oder Falsch. Das ist nicht unsere Haltung. Wenn eine Organisation die Haltung vertritt, dass Fehler gemacht werden dürfen und sie sogar wertvoll sind für die Weiterentwicklung, ist das eine gute Voraussetzung. Es gibt immer wieder neue Situationen, die uns fordern. Wenn wir alles wüssten, müssten wir nicht üben.
Was sind zum Beispiel Situationen, die ihr trainiert?
RM: Ein wichtiges Thema sind sicher Beleidigungen und Beschimpfungen. Der professionelle Umfang damit lässt sich gut üben. So gelingt es uns dann in der Praxis, nicht aus einer Verletztheit heraus und dadurch auf eine unglückliche Art zu reagieren. Man sollte in solchen Situationen einen Schritt auf die Seite machen und die Beleidigung nicht persönlich nehmen.
Wie reagiert man denn professionell auf eine Beleidigung?
RB: Ein mögliches Vorgehen ist, das Gesagte langsam und ruhig zu wiederholen und nachzufragen, warum es gesagt wurde. Mich interessiert das Motiv hinter einer beleidigenden Aussage. Oft geht es um verletzte Grenzen.
Ihr habt am diesjährigen SBK-Kongress einen Workshop geleitet zum Umgang mit brenzligen Situationen. Wie lief das?
RM: Wir haben im Workshop mit den Teilnehmenden jeweils für verschiedene Situationen je zwei Varianten gespielt, um ihnen eine Auswahl zu geben. Dabei haben wir basierend auf unserer Erfahrung aufgezeigt, wie man eine spezifische Situation handhaben könnte.
RB: Der Workshop hat Spass gemacht: Die Teilnehmenden haben sich zur Verfügung gestellt und mitgespielt. Wir haben positive Rückmeldungen darauf erhalten. Für Mitarbeitende mit Kontakt zu Bewohnenden und Patient*innen sind solche Themen interessant, denn die allermeisten haben schon eine brenzlige Situation erlebt.
Was würdet ihr einer Organisation empfehlen, die solche Trainings einführen möchte?
RM: Renés Hintergrund als Trainer Aggressionsmanagement ist sicher eine sehr gute Basis. Wir profitieren enorm davon, dass er sein Wissen zur Verfügung stellt und vermittelt. Zum Beispiel auch, wenn es darum geht, jemanden zu halten, der das nicht möchte. Beim Wechseln einer Einlage etwa. Man kann jemanden auch deeskalierend halten, das spürt der Bewohner.
RB: Unabhängig von ihrem Hintergrund ist wichtig, dass die Personen, die die Trainings leiten, gerne spielen. Man darf sich selbst nicht zu ernst nehmen und überlegen: Wie komme ich rüber? Das braucht Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Das spielerische Ausprobieren hat etwas Humorvolles. Wenn es gut läuft, entstehen daraus richtige Flow-Momente und die Gedanken und Ideen blitzen nur so. Ich finde, wenn eine Organisation das möchte, sollte sie es einfach ausprobieren und die Erfahrungen dann evaluieren.
Was geschieht nach den Trainings?
RB: Wir führen danach eine Minifachbesprechung durch, bei der wir diskutieren, was in einer Situation noch hätte helfen können. Zum Beispiel Aromapflege oder am Abend nochmals raus mit der Bewohnerin. Ursula sammelt zudem die gewonnen Erkenntnisse und gibt sie den Teilnehmenden mit.
RM: Manchmal kommt jemand mit einem klaren Auftrag vonseiten des Teams in ein Training. Dann ist es umso wichtiger, etwas Handfestes mitgeben zu können. Wir belgeiten auch Fachbesprechungen oder ethische Besprechung, in deren Rahmen zum Beispiel die Wirksamkeit von zwei Massnahmen zu einem Thema besprochen wird. Es geht dann um Fragen wie: Haben sich alle an die Massnahmen gehalten? Was hat es gebracht? Was passen wir an?
RB: Oft hören wir bei Nachbesprechungen, dass sich die Situation entspannt hat. Manchmal liegt das daran, dass man aufgehört hat, zu konkrete Erwartungen zu haben.
Was gibt es noch für Möglichkeiten, um auf eine potenziell brenzlige Situation zu reagieren?
RB: Wenn sich zum Beispiel jemand nicht anfassen lassen will, muss man das zum einen wahrnehmen und zum anderen flexibel bleiben. Es gibt kein Konzept, das man einfach so rausziehen und anwenden kann. Spürt man einen Widerstand, ist es wichtig, darauf zu reagieren.
RM: Genau, ein gutes Vorgehen kann dann sein, dass man eine andere Person die Situation «retten» lässt nach dem Schema «Good Cop, Bad Cop». Manchmal muss man die Beteiligten aber auch ermutigen, etwas auszuhalten. Wir unterstützen auch beim Aushalten, beim Akzeptieren, dass sich eine Situation grad nicht bewegen lässt.
Was ist das Wichtigste, wenn man eine brenzlige Situation entschärfen will?
RB: Die eigene Haltung. Denn das merken die Bewohnenden. Sie spüren, ob ihnen jemand gut oder schlecht gesinnt ist, ob jemand Ruhe ausstrahlt oder unsicher ist. Man kann nicht mit Angst in eine Situation hineingehen und versuchen zu deeskalieren. Die Angst muss man zur Not beiseiteschieben, zumindest für den Moment.