Jiajia Zhang hat das Werkjahr Bildende Kunst 2024 erhalten. Benedikt Bock, Mitglied der Kommission für Bildende Kunst der Stadt Zürich, hat sie in ihrem Atelier in Oerlikon zum Gespräch getroffen.
Benedikt Bock (B): In deiner Arbeit bedienst du dich unterschiedlicher Medien und Techniken wie Film, Fotografie, Skulptur, Zeichnung und Installation. Wie gehst du vor?
Jiajia Zhang (J): Ich verstehe meine Arbeiten als eine Art Akkumulation. Akkumulation im Sinne einer Ablagerung von Gedanken. Gedanken, die im ersten Moment vielleicht gar nichts mit Kunst zu tun haben. Ich sammele ganz unterschiedliche Gedanken und Dinge, das kann ein Satz sein, ein Grundgefühl oder auch eine Erinnerung an die Kindheit. Es ist ein kontinuierliches Ansammeln. Über diese Aktivität bekomme ich eine Grundidee der Welt, auf die ich dann für eine Ausstellung zurückgreifen kann. Innerhalb dieses Prozesses kann ich spüren, dass sich an einer Stelle etwas verdichtet und dringlich wird. Dann kommt erst der Moment, in dem ich mich frage, wie ich dieser Spur innerhalb einer Arbeit folgen kann. Auch in den oft knappen Produktionszeiträumen für eine Ausstellung verlasse ich mich im Kern auf diese Arbeitsweise.
B: Du arbeitest in unterschiedlichen Medien. Sammelst du auch medienspezifisch? Könntest du etwas mehr über das Sammeln erzählen?
J: Ich arbeite gegenwärtig viel mit Listen, die sehr assoziativ und chaotisch funktionieren – Listen, in die ich regelmässig irgendwelche Gedanken hineinschreibe. Es gab aber auch schon Zeiten, in denen ich stets eine Videokamera dabei hatte und ziemlich ungerichtet Fragmente sammelte, die ich dann für Videoarbeiten in eine bestimmte Richtung editieren konnte. Ich schwanke in meinem Arbeitsprozess immer wieder zwischen einem unbewussten und einem bewussten Teil. Mit Material aus dem digitalen Raum, aus dem Alltag oder mit Zitaten gehe ich ähnlich um. Bei meiner Arbeit an Videos habe ich gelernt, dass ich das Ende eines Films am Anfang nicht kennen kann und nur durchs Machen herausfinde, an welchen Ort sich diese Arbeit begeben möchte.
B: Du machst den Prozess also aktiv zu einem Teil deiner Arbeit. Hast du Themen oder zentrale Fragen, mit denen du dich in der letzten Zeit vermehrt auseinandergesetzt hast oder hast du eine Liste von Themen?
J: Im Moment interessiert mich unsere Obsession mit dem Zählen von Zeit und wie sich durch die Akkumulation von Zeit Narrative bilden. Beispielsweise ist ein Adventskalender ein Gegenstand, der auf etwas hinzählt und Erwartungen produziert. Mit Formulierungen wie «Es ist jetzt schon 40 Tage lang Frühling und 60 Tage lang Krieg» fragen wir vielmehr nach der Bedeutung einer Erzählung, die bereits begonnen hat. Mich interessiert es, wie sich physische Räume mit der Zeit verändern und wie sich Zeiträume auffächern. In meiner Ausstellung im Kunstmuseum St. Gallen habe ich eine Arbeit gezeigt, in der ich meinen eigenen Tagesablauf mit Hilfe der Stillzeiten meiner Tochter abgebildet habe. Die Fragmentierung meines Alltags durch das Stillen hatte grossen Einfluss auf meine eigene Wahrnehmung. In der gleichen Ausstellung habe ich beispielsweise auch die Saisonalität von Werbung im Stadtraum auf meine eigenen Alltag, auf meine Haus- und Fürsorgearbeit übertragen, um den ökonomischen Dimensionen dieser Rhythmen meine eigenen entgegenzustellen. Mich interessiert, wie Zeit gefüllt ist, wer über sie bestimmt und was das für emotionale Auswirkungen hat.
B: Mir scheint, du hast deine Studienzeit auf sehr eigenwillige Weise gefüllt. Zuerst hast du Architektur an der ETH Zürich studiert, dann warst du in New York am International Center of Photography und zuletzt hast du noch einen Master of Fine Arts in Zürich gemacht. Kannst du noch nachvollziehen, wie sich diese verschiedenen Ausbildungen in deiner jetzigen Praxis abbilden?
J: Ich wollte eigentlich schon vor meinem Architekturstudium Kunst studieren oder auch Film. Aber ich bin ein Migrantenkind und von meinen Eltern aus sollte ich etwas lernen, das mehr Stabilität und Sicherheit verspricht. Kunst wurde bei mir zu Hause als etwas Fremdes angesehen und stand ein wenig im Verruf. Mit Architektur konnten sich meine Eltern anfreunden. Nach meinem Architekturstudium wusste ich aber, dass ich trotzdem meinen anderen Interessen nachgehen muss. Das hat dann alles ziemlich lange gedauert. Mit 30 hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich langsam verstanden hatte, was Kunst ist und aus welchen Layers sich der Kunstbetrieb zusammensetzt. Inzwischen bin ich sehr froh über meinen etwas kurvenreichen Weg und ich empfinde meinen Hintergrund in Architektur als Bereicherung. Räume sind seither in meiner Arbeit ein zentraler Ankerpunkt. Die unterschiedlichen Dimensionen von Stadtraum und häuslichem Raum interessieren mich sehr. In Ausstellungen gehe ich immer der Frage nach, was der jeweilige Ausstellungsraum schon mitbringt und inwiefern ich ihn in meine Arbeit integrieren kann.
B: Du bist gerade von einem dreimonatigen Aufenthalt in Shanghai zurückgekommen. Magst du ein bisschen erzählen, was du dort gemacht hast?
J: Ich war vor sechs Jahren das letzte Mal in Shanghai und jetzt gab es einige Gründe, zurückzugehen. Zum einen habe ich dort meine Eltern besucht und meiner weiteren Verwandtschaft meine Tochter vorgestellt. Gleichzeitig arbeite ich schon länger zusammen mit meinem Partner Jiří Makovec an einem Filmprojekt, für das wir in Shanghai gefilmt haben. Die Idee dazu hatte ich vor fast drei Jahren, als ich mit meiner Tochter schwanger war. Inzwischen fühlt sich das Projekt wie ein grosses Puzzle an. Wir haben zwar einen groben Fahrplan, wollten aber so viel Szenen wie möglich vor Ort entwickeln und haben dazu auch mit Laienschauspieler*innen gearbeitet. Jetzt sind wir mit einer grossen Menge Material zurückgekommen, das wir im nächsten Schritt erst einmal sichten werden. Ich gehe davon aus, dass wir einen zweiten Arbeitsaufenthalt einplanen müssen. Inhaltlich behandelt der Film Themen wie Entfremdung, Nähe und Distanz oder auch die Wandelbarkeit von Identitäten. In Shanghai vermischen sich diese Themen mit meinen eigenen biografischen Erfahrungen.
B: Arbeitest du oft in solch langjährigen Produktionen?
J: Nein, das ist das erste Mal. Ausstellungen haben eine kürzere Produktionszeit. Das Filmprojekt in Shanghai ist unsere eigene Initiative und wir haben da unseren eigenen Zeitplan. Es hat auch einige Zeit gebraucht, Geld und Equipment für den Arbeitsaufenthalt zu organisieren. Mit dem Film wollen wir versuchen, ein Hybrid zu entwerfen, das im Kunstkontext gezeigt werden kann und hoffentlich auch an Filmfestivals.
B: Das Werkjahr Kunst erlaubt es dir, ein Jahr lang frei von finanziellen Sorgen künstlerisch arbeiten zu können. Was bedeutet das für deine Arbeit?
J: Es ist ein grosses Glück, diese Unterstützung zu haben und zu wissen, dass ich ohne finanziellen Druck an meinen Sachen weiterarbeiten kann. In der Kunst ist ja alles immer wahnsinnig fragil und das Gefühl von Konstanz ist sehr rar. Man kann kaum längerfristig planen und ich kenne nur wenige professionelle Künstler*innen mit eigener Familie, weil das Feld zu unsicher und prekär ist. Das Werkjahr ist in diesem Zusammenhang wirklich einzigartig. Trotzdem steht die Frage für mich weiterhin im Raum: Wie kann man bildende Künstler*innen jenseits von Wettbewerben und Awards unterstützen? Wie kann man dafür sorgen, dass sie ohne Existenzangst ihrer Arbeit nachgehen können?
Der Kunst-Newsletter ist ein gemeinsamer Informationsservice der Fachstelle Kunst und Bau, der Arbeitsgruppe Kunst im öffentlichen Raum, der Kunstsammlung, des Helmhaus und der Kunstförderung der Stadt Zürich. Er wird viermal jährlich verschickt.