Alleine 2024 starben in San Francisco 635 Personen an einer Überdosis Drogen, meist am synthetischen und hochpotenten Opioid Fentanyl, das die USA schwemmt. Viele Drogenkonsument*innen leben auf der Strasse unter prekären Bedingungen, Drogen werden offen gehandelt.
Diese Situation weist Ähnlichkeiten auf zu jener in den 1990-er Jahren in der Stadt Zürich, wo sich am Platzspitz und später am Letten eine offene Drogenszene etabliert hatte. Deshalb prüft die Stadt San Francisco nun, wie weit ihr Zürichs Vier-Säulen-Strategie helfen kann. Diese wurde damals entwickelt, um die offene Drogenszene aufzulösen und die Situation der Drogenkonsument*innen zu verbessern.
Zürichs Strategie wurde international zum Vorbild
Das gelang schliesslich durch ein Zusammenspiel von Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Aber erst ein Umdenken in Gesellschaft und Politik und eine breite politische Unterstützung machten die Umsetzung möglich. Heute gilt Zürichs Modell international als Vorbild.
Das Interesse San Franciscos an Zürichs Vorgehen ist unter anderem auf einen Besuch einer Delegation der Stadt Zürich anlässlich des zwanzigjährigen Bestehens der Städtepartnerschaft 2023 zurückzuführen. Die Stadtentwicklung Zürich hatte vor zwei Jahren in San Francisco Politiker*innen, Mediziner*innen, Polizist*innen sowie Fachleute der Drogenabgabestellen zu einem Austausch zusammengebracht.
Wie weit kann San Francisco von den Erfahrungen Zürichs profitieren? Und wo zeigen sich Unterschiede? Darüber sprachen wir mit Fred Brousseau. Er ist Berater und Direktor für Politanalysen des Boards of Supervisors, der Legislative der Stadt San Francisco. Er hat untersucht, wie der Zürcher Ansatz in seiner Stadt Anwendung finden könnte.
Mister Brousseau, Sie leben in San Francisco, wie nehmen Sie die Drogenszene wahr?
Es ist eine gut sichtbare Krise. Und sie erschüttert uns alle: San Franciscans, Besucher*innen, Ladenbesitzer*innen, die sehen, wie vor ihren Türen Menschen unter Drogeneinfluss zusammensacken. Auch die Gegensätze sind erschütternd. Man sieht schöne Geschäfte und Restaurants, eine lebhafte und lebensfrohe Stadt, und man sieht Menschen, denen es sehr schlecht geht.
Ist es eine humanitäre Krise, wie sie auch schon genannt wurde?
Auf jeden Fall. Die Menschen brauchen Hilfe.
Während der offenen Drogenszene in Zürich in den 1990er Jahren fragten sich viele: Wie konnten die Dinge ausser Kontrolle geraten?
Das fragen wir uns heute auch. Obschon die Drogenszene seit Jahren sichtbar ist und man sich gewissermassen daran gewöhnt hat, bleibt sie schockierend. Die Verbreitung von Fentanyl hat die Situation in den letzten Jahren noch verschlimmert. Fentanyl ist tödlicher als Heroin und billiger, also sehr leicht zu beschaffen. Anders als Zürich haben wir mit der Obdachlosigkeit ein weiteres Problem. Fentanyl und Obdachlosigkeit sind eine schreckliche Kombination – beide verstärken sich gegenseitig. Viele drogenkranke Menschen sind gerade deshalb high, weil sie die Obdachlosigkeit ertragen müssen.
Wie reagiert die Stadt?
Die Stadt hat viele Wohnungen gebaut, aber nicht genug. Sie hat auch viele Angebote geschaffen, um die Drogenkrise zu bewältigen, aber sie werden nicht genügend genutzt.
Woran liegt das?
Es liegt in der Natur vieler Menschen mit einem Drogenproblem, daran zu zweifeln, dass eine Behandlung helfen würde; Therapien sind nicht angenehm, es braucht also Mut, den Schritt zu wagen. Wir versuchen wie in Zürich Behandlungen nach Bedarf anzubieten, und das hilft. Trotzdem kann es mehrere Tage dauern, bis jemand in ein Programm aufgenommen wird – für manche ist das schon zu lange. Es ist ein komplizierter Prozess.
Wann haben Sie das erste Mal von der Vier-Säulen-Strategie gehört?
2023, beim Austausch mit der Zürcher Delegation, mit der Stadtpräsidentin, Mediziner*innen, Polizist*innen und Fachleuten der Zürcher Drogenabgabestellen. Die Gespräche waren sehr interessant, informativ und inspirierend. Wir sahen viele Ähnlichkeiten: Wir sind jetzt in der Situation, die Zürich weitgehend überwunden hat. Der Zürcher Ansatz war sehr effektiv. Deshalb sind wir dankbar für die Zeit und Grosszügigkeit der städtischen Mitarbeiter*innen, die uns erklärt haben, wie ihre Angebote funktionieren.
Der Zürcher «Needlepark» ist gut dokumentiert. Wie wichtig waren die persönlichen Kontakte?
Sehr wichtig! Der Projektleiter der Stadtentwicklung Zürich, Antoine Schnegg, hat uns hervorragend mit den verschiedenen Abteilungen der Stadt Zürich vernetzt. Wir haben viele Interviews geführt und Informationen gesammelt. Wir wollten wissen, wo die Unterschiede zwischen unseren Städten liegen, was gleich ist und welche Massnahmen wirksam sind. Zum Beispiel konnten wir die Zahlen der Polizei einsehen, sie um Details bitten und Rückfragen stellen. So erfuhren wir viel mehr, als Berichte oder Filmmaterial hergeben.
San Francisco und Zürich sind sehr unterschiedliche Städte.
Dennoch fanden wir viele Gemeinsamkeiten in der Art des Problems und darin, wie die Stadt versuchte, es zu lösen. Den Prozess, den Zürich durchlaufen hat, um zur Vier-Säulen-Strategie zu gelangen, fand ich sehr interessant. Es gab grossen Widerstand, den Leuten gefiel die Idee der Drogenabgabestellen nicht. Aber das Konzept hat sich schliesslich durchgesetzt.
Gibt es auch bei Ihnen Opposition?
Ja, wir hören hier, dass Drogenabgabestellen den Menschen nicht helfen, sondern sie in ihrem schlechten Zustand belassen. Was mich wirklich bewegt und was ich von den Leuten aus Zürich gelernt habe: Dass wir eine Politik für drogensüchtige Menschen machen müssen, die ihnen ein würdiges und gesundes Leben ermöglicht. Darauf kommen wir immer wieder zurück. In Zürich hat man verstanden, dass Sucht eine Krankheit ist.

Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen den Städten?
Anders als in San Francisco gibt es in Zürich geschützte Räume, wo drogenabhängige Menschen Drogen konsumieren können. Das ist ein wichtiger Unterschied. Solche Räume haben auch den positiven Effekt, dass sich die Szene weg von der Strasse bewegt. Ausserdem gibt es in Zürich mehr Flexibilität bei der medikamentösen Behandlung von Opioidsucht: Es gibt in der Schweiz eine grössere Auswahl an Medikamenten, die äusserst wirksam sind. Und anders als in den USA sind die Ärzt*innen freier bei der Verschreibung. Je mehr Menschen diese Medikamente zur Verfügung haben, desto besser. Ich denke, dazu braucht man einen flexiblen Ansatz.
Was ist ähnlich?
Etwa stationäre und ambulante Beratung und Behandlung, aber auch die Schadensminimierung. Zum Beispiel haben Drogenkonsument*innen die Möglichkeit, gebrauchte gegen saubere Spritzen zu tauschen Und wir haben nicht nur eines, sondern ein knappes Dutzend Strassenteams wie die «sip züri» in Zürich.
Wie sieht die Zusammenarbeit mit der Polizei aus?
Die Rolle der Strafverfolgungsbehörden in Zürich hat mich wirklich beeindruckt. Ich denke, in San Francisco gibt es dafür noch Raum für Verbesserungen. Nach den Gesprächen und anhand der Zürcher Ergebnisse bin ich zur Überzeugung gelangt, dass die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und anderen Stellen zentral ist. Zwar arbeiten auch in San Francisco die Behörden punktuell zusammen, unter anderem in einer Task Force in einem Stadtteil, der stark betroffenen ist. Sie wird jedoch weitgehend von der Strafverfolgung angeführt.
Was ist für Sie der wichtigste Schluss?
Bei unserem Austausch mit der Zürcher Delegation vermittelten die Zürcher Repräsentant*innen einheitliche Botschaften. Hingegen verfingen sich die Vertreter*innen aus San Francisco an ihren öffentlichen Auftritten in Diskussionen, etwa: Sollen wir auf Abstinenz bestehen oder brauchen wir Schadensbegrenzung? Da wurde mir klar, dass ein fehlender Konsens Teil des Problems ist. Wir sind noch nicht so weit. In der Hinsicht gibt es einen dramatischen Unterschied zwischen unseren Städten.
Könnten Ihre Analyse und das Hearing ein Schritt in Richtung Konsens sein?
Das werden wir sehen. Aber ja, das könnte ein mögliches Ergebnis sein. Unser Bürgermeister Daniel Lurie ist sehr interessiert daran, dass mehr Menschen die Angebote der Stadt nutzen und sich behandeln lassen. Die Massnahmen zur Schadensbegrenzung wurden im Hearing hervorgehoben und führen möglicherweise zu einer breiteren Diskussion.