Manche ihrer Bekannten wundern sich, weshalb sie, die sich mit Künstlicher Intelligenz befasst, die Klimaliteratur analysierte und Daten von Katastrophen sicherte, weshalb sie nicht mehr im IBM-Forschungszentrum in Rüschlikon arbeitet, sondern bei der Abwasserreinigungsanlage Werdhölzli. Was macht sie dort?
Nun, die Anlage verfügt über eine Fülle von Daten. «Und das macht sie für mich als Data Scientist zu einem höchst interessanten Ort», sagt Birgit Pfitzmann. Die Verantwortlichen haben während zwölf Jahren 14 000 Datenreihen erhoben. Haben gemessen, wie hoch die Konzentrationen von Sauerstoff, Ammonium oder Nitrat in den Reinigungsbecken sind, wie hoch Druck oder Durchfluss sind und wie intensiv Rührwerke oder Gebläse arbeiten. Und das für jede einzelne Minute seit 2013.
Innovationsschub für die Stadtverwaltung
Diesen Daten will die Abwasserreinigungsanlage nutzen. Deshalb beantragte sie in der jährlichen Ausschreibung des «Smart Innovation Fellowships» von Smart City der Stadtentwicklung eine*n Fellow aus Privatwirtschaft oder Wissenschaft. Diese werden eingeladen, sein oder ihr Wissen während begrenzter Zeit in die Stadtverwaltung einzubringen und so die Innovation zu fördern.
Der erste Fellow führte das selbstorganisierte Lernen an der Höheren Fachschule für Rettungsberufe ein; der zweite lotete die Möglichkeiten der Mikromobilität im Stadtzürcher Verkehrssystem aus; der dritte unterstützte das Pflegepersonal im Stadtspital Zürich dabei, Arbeitsabläufe selber zu gestalten und neue Formen der Zusammenarbeit zu testen. Und nun soll Birgit Pfitzmannn als vierter Fellow aus der Datenfülle im Werdhölzli einen digitalen Zwilling der Reinigungsanlage modellieren, also alle Abläufe digital simulieren.
Das erste Ziel: eine möglichst genau Vorhersage dazu, wie viel Abwasser in den nächsten Stunden auf die Anlage zufliessen wird. Für die Verantwortlichen eine wichtige Information – je mehr Wasser kommt, desto mehr Sauerstoff benötigt die Anlage, damit der Stickstoff abgebaut werden kann. Sonst kann giftiger Ammoniak in die Limmat gelangen oder schädliches Lachgas in die Luft.
Auch die Daten müssen gereinigt werden
Die Anlage, die Abwasser aus Toiletten, Küchen und Kanälen reinigt, wurde am Stadtrand erbaut, dort, wo Zürich aufhört, und Schlieren beginnt. Es ist das Abwasser von über einer halben Million Menschen. Jede Sekunde fliessen der Anlage durchschnittlich 2200 Liter zu. Wenn aber morgens die ganze Stadt zur Toilette geht, sind es mehr, wenn es stark regnet, können es bis zu 6000 Liter sein.
Ein Prognoseinstrument aufzubauen ist nicht einfach. Es gibt viele Einflüsse, welche die Daten verfälschen können: Haare, die einen Sensor erblinden lassen oder ein Messgerät, das ausgestiegen ist. So musste Birgit Pfitzmann mithilfe von KI erst die Daten durch Massenbilanzen und Plausibilitätsprüfungen selbst reinigen, bevor sie damit arbeiten konnte.
Was reizt sie an dieser Aufgabe? «Ich bin 65 Jahre alt und möchte mich zum Abschluss meiner Karriere mit meinem ganzen Wissen für die Umwelt einsetzen», sagt sie. Im Werdhölzli kann sie dazu beitragen, dass das Wasser möglichst gründlich gereinigt wird und die Anlage stromsparend arbeitet. Und in ihrer Freizeit engagiert sie sich beim Naturnetz Unteramt: Sie mäht Blumenwiesen, pflanzt vogelfreundliche Sträucher und erhebt – natürlich – Daten. Zum Beispiel zum Nistverhalten von Vögeln.
Am Anfang von Birgit Pfitzmanns Karriere stand ein Mathematik-Studium. Rechnen und alles, was mit Zahlen zu tun hatte, fiel der jungen Frau leicht. Sie wechselte aber bald zur Informatik, denn die erschien ihr relevanter; sie interessierte sich schon damals dafür, wie Daten geschützt werden können. Bereits mit 37 Jahren wurde sie von der Universität des Saarlandes zur Professorin für Praktische Informatik ernannt.

Das Ende von Birgit Pfitzmanns Karriere zögert sich nun aber hinaus; es ist aufwändig, von der ganzen Anlage einen digitalen Zwilling zu erstellen. Und es hat sich gezeigt, dass weitere Abläufe mithilfe von Daten verbessert werden können. Ihr ist es recht – so zieht sich der «schöne Karriereabschluss» noch etwas in die Länge.
Die Stadtentwicklung Zürich hat täglich mit vielen interessanten Menschen zu tun, die in Zürich etwas bewegen. In dieser Rubrik stellen wir sie unseren Leser*innen vor.