Am Sechseläuten wird sie wie eine mittelalterliche Edeldame, eine Krone auf dem Kopf, durch Zürichs Strassen schreiten und die Gesellschaft zu Fraumünster anführen. Zum ersten Mal. Seit einem Jahr ist Claudia Hollenstein die Hohe Fraumünster-Frau der Gesellschaft, gewissermassen deren Präsidentin und Aussenministerin. Die Frauen dürfen seit 2014 als Gäste der Gesellschaft zur Constaffel am Umzug mitlaufen. Das ist nicht selbstverständlich. Zuvor mussten sie als amtlich bewilligter Demonstrationszug allein auf einer separaten Route durch Zürich laufen.
Bei einem Cappuccino am Münsterplatz erzählt Claudia Hollenstein, wie sie damals das Selbstbewusstsein und Engagement der Frauen beeindruckte, die auf ihrem Marsch abseits des offiziellen Umzugs ihren Weg gingen. Die Tradition in der Gegenwart, das wollte sie erkunden. Darum packte sie im Jahr darauf zwei ihrer drei Kinder, um in Zürich mit dabei zu sein und die Gesellschaft zu Fraumünster hautnah zu erleben.
Daraufhin bewarb sie sich und wurde 2014 nach dem offiziellen Aufnahmeverfahren aufgenommen. Historisches Interesse und Verbundenheit mit Zürich sind gefragt sowie Offenheit, sich mit allen 73 Frauen der Gesellschaft einzulassen. Jedes Alter und die unterschiedlichsten Berufe sind vertreten. Vor einem Jahr wurde sie zur Hohen Frau gewählt. Fraumünster-Frau ist man auf Lebenszeit.
Die Gesellschaft ehrt posthum Frauen. Sei es, weil sie das öffentliche Leben geprägt haben, sei es, weil sie im Stillen Grosses geleistet und in ihrer gesellschaftlichen Rolle viel bewirkt haben. Ihre öffentliche Würdigung findet am Sechseläuten-Morgen im Fraumünster statt. Zudem führt die Gesellschaft ein Ehrenbuch, in dem sich Frauen der Gegenwart aus allen Ständen und Schichten eintragen. An den monatlichen Treffen in ihrer Gesellschaftsstube, dem Baur au Lac, werden Rednerinnen eingeladen. Mit Aktionen werden Personen und Institutionen unterstützt
Und: «Am Sechseläuten, wenn die Zünfter ihre Zunft feiern, feiern auch wir unsere Gesellschaft. Ihretwegen sind wir zusammen – und nicht nur, weil wir am Sechseläuten mit den Männern mitlaufen wollen», sagt Claudia Hollenstein.
Aber das auch. Am Sechseläuten seien die Aufgaben von jeher verteilt. Die Zünfter zeigen sich als damalige Berufsleute, die Frauen kümmern sich um die Blumen. Beide Rollen verdienten Wertschätzung, meint die Hohe Frau. Gegen reine Männer- und Frauengesellschaften spricht aus ihrer Sicht nichts. Aber sie betrachtet es kritisch, wenn an öffentlichen Anlässen ein Geschlecht ausgeschlossen wird.
Die Frauen berufen sich auf die Geschichte des 853 gegründeten Klosters Fraumünster und seine Äbtissinnen, die in Zürich kulturell, wirtschaftlich und politisch tonangebend waren. Sowohl Zünfte als auch Constaffeln wurden erst mit der Zürcher Verfassung von 1336 gegründet. Aus dieser Geschichte folgere die Gesellschaft zu Fraumünster ihre Berechtigung, dabei zu sein, meint Claudia Hollenstein: «Am Umzug sind wir die ältesten Gäste.»
Ihre Mutter war Verkäuferin im Bally an der Bahnhofstrasse und stolz darauf, ihr Vater war Elektriker. Auch sie wählte einen lebensnahen und zukunftsorientierten Beruf und wurde Pflegefachfrau und Diabetesberaterin. Heute wirkt sie als Ombudsfrau und Nachhaltigkeitsverantwortliche bei der Hirslanden AG. In ihrer Familie diskutiert man oft und gern über Politik. Für Überzeugungen einstehen und viel investieren, um Ziele zu erreichen: Diese Werte hat sie im Elternhaus mitbekommen So stieg sie als Gründungsmitglied der grünliberalen Ortspartei ihrer Gemeinde Stäfa in die Politik ein und sitzt heute im Zürcher Kantonsrat.
Starke Überzeugungen werden auch in der Gesellschaft zu Fraumünster gewürdigt. Etwa Magdalena Bleuler, die sich im 17. Jahrhundert als Söldner ausgab, und die Schriftstellerin Betsy Meyer, C.F. Meyers Schwester. Dieses Jahr wird Hedwig Frey gedacht, der ersten Titular-Professorin für Anatomie an der Universität Zürich. (nt)

Die Stadtentwicklung Zürich hat täglich mit vielen interessanten Menschen zu tun, die in Zürich etwas bewegen. In dieser Rubrik stellen wir sie unseren Leser*innen vor.