Die Dynamik ist ungebrochen: Zürich wächst und die Stadt wird entsprechend den Vorgaben von Bund und Kanton nach innen verdichtet. Vielerorts ersetzen Neubauten ältere Liegenschaften mit günstigen Wohnungen. Dadurch ändert sich die Bevölkerungszusammensetzung.
Zum Beispiel in Schwamendingen. Die Bautätigkeit im traditionellen Arbeiter*innen-Familienquartier führte im letzten Jahrzehnt dazu, dass der Anteil der Erwerbstätigen sowie die Haushaltseinkommen gestiegen sind. Gleichzeitig sind die Anteile der Kinder und Jugendlichen sowie der älteren Menschen gesunken.
In Leimbach zeigt sich eine andere Entwicklung. Hier sind viele neue, hauptsächlich genossenschaftliche Familiensiedlungen entstanden. In der Folge verjüngte sich die Bevölkerung, und die Medianeinkommen der Haushalte stiegen; der Median markiert den Wert, bei dem die eine Hälfte der Haushalte mehr verdient, die andere Hälfte weniger. Gleichzeitig stieg die Sozialhilfequote deutlich und die Zahl der Ausländer*innen erhöhte sich um 30 Prozent. Die Hälfte von ihnen kommt aus Nicht-EU/EFTA-Staaten.
Woher wir das so genau wissen? Wir verdanken diese Erkenntnisse dem Bericht zum sozialräumlichen Monitoring, den die Arbeitsgruppe «Sozialverträgliche Innenentwicklung» unter Leitung der Stadtentwicklung seit 2020 jährlich erstellt. Der politische Auftrag dafür basiert auf dem kommunalen Siedlungsrichtplan und dem wohnpolitischen Strategie-Schwerpunkt der Stadt Zürich.
«Das sozialräumliche Monitoring soll die statistischen Grundlagen liefern, um auf eine möglichst sozialverträgliche Innenentwicklung hinzuwirken und die soziale Durchmischung zu unterstützen», erklärt die zuständige Projektleiterin bei der Stadtentwicklung, Politologin Larissa Plüss.
Mit dem Monitoring verfolgt die Stadtentwicklung zwei Ziele: Sie will herausfinden, wo Personen leben, die nur schwer wieder eine bezahlbare Wohnung finden und deshalb sozial besonders verletzlich sind. Und sie will alle Bauträgerschaften für diese Problematik sensibilisieren und sie beim sozialverträglichen Verdichten unterstützen.
Das wissenschaftliche Instrument des sozialräumlichen Monitorings kann methodologisch auf die sozialökologische «Chicago School» zurückgeführt werden und hat sich in verschiedenen europäischen Städten etabliert. «In Zürich sind die Daten äusserst detailliert», sagt Larissa Plüss. «Wir können die soziale Zusammensetzung sehr kleinräumig eruieren – bis hin zu einzelnen Siedlungen.»
Um die «soziale Vulnerabilität» der jeweiligen Quartierbevölkerung zu messen, werden zum einen sozioökonomische Indikatoren wie die Sozialhilfequote oder das mittlere steuerbare Haushalts-Einkommen erhoben. Zum anderen aber auch demografische Merkmale, wie das Alter oder Angaben zu Nationalität und Sprache. Denn es ist davon auszugehen, dass es insbesondere für Personen mit tiefen Einkommen, für Familien, Alleinerziehende, ältere Menschen und Ausländer*innen aus Nicht-EU/EFTA-Staaten besonders schwierig ist, auf dem freien Markt eine Wohnung zu finden. Sie sind von der baulichen Erneuerung stärker betroffen.
Dies zeigen auch die Resultate des aktuellen Berichts von 2024. Zum einen bestätigt er langjährige Trends in der Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung. So stieg das durchschnittliche Haushaltseinkommen in der ganzen Stadt deutlich; gleichzeitig ist die Sozialhilfequote gesunken. Weiter zugenommen hat auch der Anteil der ausländischen Bevölkerung – insbesondere aus den EU/EFTA-Staaten. Hierbei handelt es sich mehrheitlich um jüngere Erwerbstätige, was zur Folge hat, das Zürich immer jünger wird.
In bestimmten Stadtkreisen zeigen sich diese Entwicklungen besonders deutlich. In den Kreise 3, 4 und 5 geht der Austausch einer statusniedrigen durch eine statushöhere Bevölkerung weiter. Aber nicht nur im Stadtzentrum, sondern auch in periphereren Quartieren wie Altstetten, Oerlikon oder Schwamendingen lebt zunehmend eine anders zusammengesetzte Bevölkerung. Im Kreis 1 hingegen sinken die Einkommen weiter. Ein möglicher Grund dafür ist die zunehmende Alterung der dortigen Bewohner*innen: Ein substanzieller Anteil ist in den letzten Jahren ins Pensionsalter eingetreten.
Zum anderen zeigt der Bericht auch neuere Entwicklungen auf wie die Folgen der dynamischen Entwicklung von Leimbach. Oder ein Ende des Kinderbooms. Waren die Geburtenzahlen von 2000 bis 2016 markant gestiegen, so sind sie insbesondere seit Corona deutlich gesunken.
Das sozialräumliche Monitoring erfasst aber nicht nur die Zusammensetzung der Bevölkerung, sondern setzt sie in Beziehung mit der baulichen Entwicklung. Das ermöglicht einen Blick in die Zukunft. Anhand von Indikatoren wie Gebäudealter oder Mietpreisniveau lokalisiert das Monitoring Gebiete, in denen künftig stärker erneuert und verdichtet werden könnte.
Das Resultat birgt politischen Zündstoff. «Der Bericht zeigt auf, dass die städtischen Gebiete mit einem hohen baulichen Erneuerungspotenzial meist auch jene sind, die einen hohen Anteil an sozial vulnerablen Bevölkerungsgruppen aufweisen», sagt Larissa Plüss. Im Klartext: In diesen Gebieten besteht ein hohes Risiko, dass es ohne sozialverträgliche Massnahmen zu sozialer Verdrängung und Entmischung kommen kann. Besonders gefährdet sind die peripheren Quartiere am Stadtrand. Die gute Nachricht: Diese verfügen auch häufig über einen hohen Anteil an gemeinnützigem Wohnraum, was einen gewissen Schutz bietet und eine sozialverträgliche Entwicklung begünstigt.
Dank der enormen Tiefe und der Verbindung von Informationen über die Bevölkerungszusammensetzung mit jener der baulichen Entwicklung, ist das städtische Sozialraummonitoring ein wichtiges Werkzeug für die Praxis. Es unterstützt die städtischen Akteur*innen bei der Förderung einer möglichst sozialverträglichen baulichen Entwicklung.
Dazu hat die Stadt verschiedene Handlungsansätze in einem Leitfaden zusammengefasst. Sie umfassen unter anderem die Förderung von Etappierungen bei Ersatzneubauten, die Gewährleistung eines substanziellen Anteils an subventionierten, beziehungsweise preisgünstigen Wohnraums oder die Unterstützung der Mieterschaft bei der Wohnungssuche.
«Inwiefern diese Massnahmen auch tatsächlich zur Anwendung kommen, hängt von der Bauherrschaft ab», sagt Larissa Plüss. Bei Um- oder Neubauprojekten der städtischen Liegenschaften seien sie bereits etabliert. Bei Bauvorhaben von gemeinnützigen Wohnbauträgerschaften und bei privaten Bauprojekten mit besonderen Anforderungen wie Arealüberbauungen oder Sondernutzungsplanungen könne die Stadt sozialverträgliche Massnahmen einfordern. Die Basis dazu liefert jeweils ein Mitbericht der Stadtentwicklung, der die Vulnerabilität der Bewohner*innen des jeweiligen Kleinquartiers eruiert und Empfehlungen abgibt.
Bei privaten Bauprojekten in Regelbauweise hingegen kann die Stadt nichts einfordern. «Hier sensibilisieren wir die Bauherrschaften für das Thema und bieten ihnen unsere unterstützenden Angebote an», sagt Larissa Plüss. Umso mehr freut sie sich, wenn sie von Verdichtungsprojekten erfährt, wo tatsächlich eine Etappierung beschlossen wurde, wo die Bauherrschaft eine Fachperson für sozialverträgliches Bauen beizieht oder ein Mieter*innen-Büro installiert, um die Bewohnerschaft bei der Wohnungssuche zu unterstützen.
Ebenfalls ein gutes Zeichen sei es, dass private Bauherrschaften vermehrt das Gespräch mit der Stadt suchen, wenn es um Verdichtungsprojekte gehe. «Der Anfang ist gemacht», sagt Larissa Plüss. «Das Bewusstsein für eine sozialverträgliche Innenentwicklung ist heute in Zürich wesentlich höher als vor vier Jahren, als wir mit der Umsetzung von Sozialraummonitoring und Mitberichten begonnen haben».