Roland Reichenbach ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Er spricht an der Waidberger Demokratiekonferenz vom 4. März 2026 zu demokratischer Erziehung und politischer Bildung.
Pascal Zwicky: Im Schulkreis Waidberg hat die Kreisschulbehörde vor vier Jahren das Schwerpunktthema «Demokratie und Partizipation» gesetzt, d.h. die Schulen müssen sich seither auf die eine oder andere Weise mit dieser Thematik beschäftigen und darüber auch gegenüber den Behördenmitgliedern berichten. Eine gute Idee?
Roland Reichenbach: Ja, das ist eine gute Idee. In der Schweiz hat die Demokratie einen guten Ruf, ebenso Partizipation. Während vielleicht manche Politikerinnen und Politiker kritisch betrachtet werden, gibt es im Vergleich schon etwa zu Deutschland wenig Politikverdrossenheit in unserem Land, d.h. das politische System findet insgesamt eine hohe Akzeptanz. Und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die demokratischen Institutionen ist hoch, d.h. aber nicht, dass auch das politische Interesse gross wäre oder viele Menschen ein profundes Verständnis von Demokratie hätten. Wohl wird Demokratie auch (positiv) verklärt und die faktischen Möglichkeiten der Partizipation überschätzt – vielleicht gerade weil sie nicht genutzt werden. Beide Wahrnehmungen sind unproblematisch, möglicherweise sogar förderlich, solange die Lebenslage der allergrössten Mehrheit positiv bewertet wird.
Doch falsche Vorstellungen von Demokratie können diese auf die falsche Bahn bringen, wie der Demokratietheoretiker Giovanni Sartori einmal formulierte. Demokratie und Partizipation sind nicht einfach nur wunderbare Dinge, sondern sie sind auch mühsam und müssen ausgehalten werden. Das ist nicht zuletzt eine Frage der emotionalen Kompetenz, oder, um es mit Alexis de Tocqueville schöner zu sagen, der Gewohnheiten des Herzens. So muss man ertragen können, dass sich in Demokratien nicht immer die «Wahrheit» durchsetzt, sondern (in der Regel) die Mehrheit. Die unterliegende Minderheit kann aber am Geltungsanspruch ihrer Position weiterhin festhalten. Man könnte auch sagen, wenn es um die Abstimmung geht, hat Demokratie am Ende «wahrheitsabstinent» zu sein. Aus diesem Grund hatte sie vor allem bei Philosophen lange Zeit kein hohes Ansehen. Doch schon Aristoteles hatte sie bejaht, gewissermassen zähneknirschend, weil er sie als wesentlich besser als alle Alternativen betrachtet hatte. Das scheint mir auch heute eine angemessene Einstellung zur Demokratie zu sein.
Diese Einstellung kann gelernt und in drei wesenhaften Ausdrucksformen von Demokratie vertieft werden: Lebensform, Gesellschaftsform und Herrschaftsform. Schule trägt hierzu Wesentliches bei, vor allem hinsichtlich des sozialen Lernens, was bedeutsam ist für die Ausgestaltung der Lebens- und Gesellschaftsform, und – allerdings wesentlich exklusiver und insgesamt ungewiss – hinsichtlich des politischen Lernens, d.h. des Verstehens der Demokratie als Staats- und Herrschaftsform.
Weltweit ist die Demokratie unter Druck, Autoritarismus und (neo-)faschistische Kräfte haben Aufwind. Wie schätzen Sie die aktuelle historische Situation ein und wie geht es Ihrer Meinung nach der Schweizer Demokratie?
Die globale Situation der Demokratie gibt Anlass zu grosser Sorge. Nur (noch) ein Viertel der Weltbevölkerung lebt in einem Staat, der als liberal-demokratisch bezeichnet werden kann. Die Zukunft der Demokratie ist nicht sicher und nicht gesichert. Obwohl sich erwachsene Menschen kaum selbst als «autoritätsgläubig» bezeichnen würden, ist der labile Zustand der Demokratie kaum vorstellbar, wenn nicht sehr viele Bürgerinnen und Bürger sich eine starke Hand wünschten.
Dann gibt es auch in Europa eine Erstarkung des rechten, aber auch des linken Populismus zu konstatieren. Der Erfolg des politischen Populismus liegt weniger in der Dummheit der Menschen und der geschickten Manipulation von Demagogen begründet, als im mangelnden Vertrauen in die Repräsentation der offiziellen Politik und Regierung. Wenn grosse Teile der Bevölkerung ihre (vitalen) Interessen nicht mehr vertreten sehen, so erscheint die Reaktion, dann lieber noch grossmundige Figuren zu präferieren, die wenigstens nicht zum Establishment zu gehören scheinen, vergleichsweise vernünftig.
Es ist ein Fehler, Autoritarismus und Populismus vor allem als Ausdruck einer mangelnden demokratischen Gesinnung und politischen Bildung zu sehen. Wer zum – schlimmer Ausdruck – «white (rural) trash», zu den «working poor» bzw. zum «basket of deplorables» gehört (ein pejorativer Ausdruck Hillary Clintons in den US-Präsidentschaftswahlen 2016), wählt vielleicht lieber den höchst fragwürdigen Politiker Donald Trump. Und wenn sich das sozialdemokratische und links-liberale Milieu nicht mehr glaubhaft um die Sorgen der sogenannten «kleinen» Angestellten und Arbeiterinnen kümmert, wundert es wenig, dass diese Leute ihre politische Orientierung um 180 Grad von links nach rechts umwenden, wie dies in den letzten Jahrzehnten an vielen Orten Europas (und anderswo) zu beobachten ist.
All diese dramatischen Veränderungen lassen sich auch in der Schweiz beobachten, aber m. E. in sehr viel milderer Form, so dass ich mir um die politische Situation in der Schweiz momentan keine sehr grossen Sorgen mache.
Lassen Sie uns zurück zur (Volks-)Schule kommen. Was kann sie zum Schutz und zur Weiterentwicklung der Demokratie beitragen?
Die obligatorische Schule ist in der Schweiz gut im «Volk» verankert. Und das seit sehr langem. Es gibt zum Glück auch immer noch einen bodenständigen Pragmatismus in diesem Land, der zwar manchmal auch nervt, weil es so anti-akademisch und anti-intellektuell daherkommen kann, aber insgesamt wenig Probleme produziert und die politische Urteilskraft meist im guten Sinne wirken lässt. Die immer noch ausgeprägt föderalistische Struktur des politischen Systems und damit verbunden das Subsidiaritätsprinzip, begleitet von kleinräumigen Identifikationen, die manchmal despektierlich als «Kantönligeist» bezeichnet werden, sind offenbar eine verlässliche Basis für politische Handlungsfähigkeit (statt rigoroser Prinzipienreiterei, wie wir sie eher nördlich der Schweizergrenze beobachten können) und Entscheidungsfreudigkeit (statt raffinierten Diskursen in Endlosschleifen, wie wir sie in unserem unmittelbaren Westen mitverfolgen können). Dies kommt der Art und Weise, wie Schule im demokratischen System eingebunden ist, sehr zugute.
Die Volksschule leistet mehr für die demokratische Kultur als man vielleicht meinen möchte. Sie ist idealiter der Ort, an welchem alle sozialen und gesellschaftlichen Milieus zusammentreffen und Praxen des Gemeinsinns eingeübt werden können. Wer sich um politische Bildung kümmert, neigt jedoch m. E. mitunter dazu, den politischen oder demokratischen Aspekt auf «Mitbestimmung» zu verkürzen. Mitbestimmung ist jedoch nur ein Teil der Partizipation. Das zeigt sich am Kumulationspunkt des Abstimmens. Denn: Warum sind Abstimmungen (Mehrheitsentscheidungen) überhaupt nötig? Sie sind nötig, weil man sich eben nicht hat einigen können. Demokratie ist, mit anderen Worten, die pragmatische Antwort für das Problem und die menschliche Erfahrung, dass wir uns nicht einigen können.
Es ist sozusagen normal für Demokratien, dass man sich nicht einig ist und vor allem, dass der Dissens artikuliert werden darf und auch soll. Demokratie zeigt die Probleme, die in Autokratien unter den Teppich gewischt werden. In mehr oder weniger aufrichtigen Erwägungs- und Überzeugungsprozesses suchen wir den Konsens, wenn möglich sogar den Argumentationskonsens. Die Erfahrung ist aber eben, dass wir einen solchen selten oder nie finden und also im Dissens verbleiben. Was nun in der Schule gefördert, geübt und praktiziert werden kann, das sind sowohl Konsenskompetenzen als auch die Dissenstauglichkeit (das ist keine Kompetenz, sondern eine Tugend). Letztere ist am Ende die entscheidende Grösse, um die nicht-idealen Zustände möglichst gewaltfrei aushalten zu können. Um in diese Richtung zu lernen und einsichtig zu werden, dienen prinzipiell alle Gegenstände der Bildung und des Schullebens.
Sie haben sich verschiedentlich auch schon kritisch zu Partizipation im Schulkontext geäussert. Können Sie das etwas ausführen?
Aus didaktischen und diskursästhetischen Gründen äussere ich mich manchmal pointiert (andere meinen – fälschlicherweise – polemisch). Partizipation ist ein Allerweltbegriff. Partizipieren tun wir – in gewisser Weise – sowieso: in und an dieser Schulklasse, dieser Familie, diesem Leben, dieser Epoche. Das Recht, partizipieren zu können, ist fundamental. Wir wollen dazugehören können. Wenn dieses Recht auch zugleich als Pflicht betrachtet wird, so ist dies politisch problematisch, sozial hingegen nicht unbedingt.
Als Mitglied einer Familie habe ich das Recht, an den Familienpraxen teilnehmen zu können, aber vielleicht auch die Pflicht. Ich kann jedoch nicht mir nichts, dir nichts darauf bestehen, nicht mehr Kind zu sein oder nicht mehr zu dieser Familie zu gehören. Wenn ich hingegen Mitglied eines Schachvereins sein möchte, dann kann ich das in der Regel. Und wenn ich dann merke, dass dieser Verein doch nichts für mich ist, steht es mir frei, den Verein wieder zu verlassen. So habe ich also zwei Rechte: ein Partizipationsrecht und zugleich ein Distanzierungsrecht: Ich muss nicht Mitglied des Schachvereins sein, wenn ich nicht will. Bei einer religiösen Sekte ist es schwieriger: die nehmen mich zwar gerne auf, doch dann kann ich sie vielleicht nur mit grossem Aufwand und vielen Problemen wieder verlassen. Moderne Lebensformen zeichnen sich dadurch aus, dass Partizipations- und Distanzierungsrechte gleichursprünglich sind. Das trifft auch für politische Parteien zu (oder sollte zutreffen). Das trifft aber nicht in gleichem Masse beispielsweise für Familien oder Schulklassen zu. Wer partizipieren muss, hat also (und wenn man so will) ein politisches Problem.
Hinzu kommt das Problem der Pseudopartizipation, über das schon Carol Pateman geschrieben hat. In asymmetrischen Verhältnissen – zum Beispiel pädagogischen Settings – ist Pseudopartizipation eine nicht immer zu vermeidende Tatsache. Es gibt also eine schon fast strukturell zu nennende Unaufrichtigkeit, wenn es um die Partizipation zwischen Ungleichen geht.
Ein anderer Punkt, den ich nur kurz erwähnen möchte und über den man jedoch lange diskutieren könnte, sind die Grade der Partizipation. Vor allem wenn es um Mitbestimmung gehen soll, so sind viele Partizipationsgrade und -qualitäten möglich, von der Null-Partizipation der Alleinentscheidung (der vorgesetzten Person) bis zur Voll-Partizipation, wenn die Entscheidungsbefugnisse ganz (an die «Subalternen») delegiert werden.
Der 2024 verstorbene Soziologe Oskar Negt sah eine wesentliche Aufgabe der Schule darin, junge Menschen zu einem «aufrechten Gang» durchs Leben zu befähigen. Wie sehen Sie das?
Der «aufrechte Gang» ist eine politisch und ethisch bedeutsame Metapher, welche die sprachliche Verbindung oder Nähe des «Aufrechten» mit dem «Rechten» bzw. «Richtigen» hervorhebt. Es ist eine schöne und auch etwas bombastische Redeweise. Sie betont die Bedeutung, die Person zu stärken. Da kann ich nur zustimmen. Es scheint mir nichts Wichtigeres zu geben. Allerdings lässt sich dieses starke Individuum nicht einfach nach Gusto herstellen, wohl lässt es sich überhaupt nicht «herstellen».
Ich möchte eine andere Metapher ins Spiel bringen, jene des «wackeren Herzens», von dem Immanuel Kant in seiner Pädagogik spricht. Ein «wackeres Herz» ist sozial vielleicht weniger aufmerksamkeitserheischend, aber es hält eben viel aus. Das gönnen wir doch allen jungen Menschen. Auch uns selbst, würde ich meinen. Ich bekunde aber oft Mühe, ein «wackeres Herz» zu wahren. Aber ich bemühe mich.
Oskar Negt ist ein sehr engagierter und politischer Soziologe gewesen. Ein Typus von Akademiker, die zu verschwinden scheinen. Negt hat wohl – wie andere Nicht-Pädagog*innen – geglaubt, die Schule könne junge Menschen tatsächlich befähigen, aufrecht durchs Leben zu gehen. Ich sage nicht, dass die Schule das sicher nicht kann – nur den dazu nötigen Trick 77 kenne ich jedenfalls nicht. Schule kann vieles, aber nicht alles, was uns so in den Sinn kommt, uns in den Kram passt oder was wir sowieso für wünschenswert halten.
Bei der Demokratie geht es um die Verteilung von und den Umgang mit Macht. Wenn Sie die Macht hätten, die Schweizer Volksschule zu verändern: Welche drei Massnahmen würden Sie heute noch beschliessen?
Schauen Sie, ich möchte diese Macht ja gar nicht. Niemand besitzt diese Macht. Die Demokratie gehört niemandem. Sie ist hingegen eine Praxis, zu der man eine herzhafte Bindung aufbauen kann. Wenn ich die Macht hätte, die Schweizer Volksschule zu verändern, dann wäre dies ja gerade keine demokratische Macht, sondern nur meine kleine miese Tyrannenmacht.
Kratein heisst «Macht ausüben». Kratein ist nicht Archein. Archein – wie in «Oligarchie» – heisst «Herrschen». Demokratie ist nicht «Volksherrschaft», ein Volk hat noch nie und nirgends geherrscht. Es handelt sich schlicht um eine falsche Übersetzung, wenn Demokratie als Volksherrschaft bestimmt wird. In Demokratien hat der Demos die Macht, Politiker*innen zu wählen und Abstimmungen durchzubringen oder niederzuschmettern. Eine Polis kann «autonom» sein, d.h. sich selbst die Gesetze geben – «auto-nomoi» –, nicht aber ein Individuum. In der Demokratie geht es darum, dass kein Individuum die Macht hat, alles zu bestimmen; es geht darum, die «Mächtigen» abwählen zu können.
Mich regt vieles an der Schule und vor allem der Pädagogik auf, aber ich würde es wichtiger finden, die Leistungen der Volksschule für die Demokratie in der Schweiz besser zu verstehen und zu würdigen.
Das Interview wurde schriftlich geführt.