Minderjährig, geflüchtet, allein – Einblicke in die Wohngruppe Obstgarten in Zürich
Samsom hat es geschafft. Der 22-Jährige ist Maler, baut sich gerade ein eigenes Geschäft auf. Als er vor acht Jahren allein in die Schweiz kam, hätte er davon kaum zu träumen gewagt. Andere träumen noch. Zum Beispiel die heutigen Bewohner der MNA-Wohngruppe Obstgarten. Wovon, das verrieten sie bei einer Führung durch ihr Zuhause – und überraschten damit manche*n Besucher*in.
Khaled hat die Besucher*innen sofort auf seiner Seite. Die rund 30 Jugendlichen in der MNA-Wohngruppe nennt er liebevoll seine «Obstgarten-Familie». Er erzählt von der Schule, dem Training, seinen Plänen. Nach verschiedenen Integrationsprogrammen und Schnupperlehren hat er eine Lehrstelle als Sanitärinstallateur gefunden. Im August geht es los. «Ich freue mich sehr», sagt Khaled. Mit 15 Jahren flüchtete er allein aus seiner Heimat Afghanistan. Nun wird der bald 18 Jahre alt und spricht gut Deutsch. Eine Erfolgsgeschichte.
Konflikte gehören dazu
Trotzdem ist nicht alles eitel Sonnenschein. Auseinandersetzungen gehören zum Alltag. Während die Besucher*innen das Haus besichtigen, müssen die Betreuungspersonen einen Jugendlichen beschwichtigen, der sich lautstark beschwert. Sie sprechen mit ihm. Ruhig und verständnisvoll, aber bestimmt. Khaled sagt: «In jeder Familie gibt es Konflikte, auch in unserer Obstgarten-Familie. Das gehört dazu.»
Sandro Tolotti, Bereichsleiter MNA und junge Erwachsene bei der AOZ, sieht es als die Aufgabe des Betreuungspersonals, mit den Jugendlichen stets adäquate Konfliktlösungsstrategien zu üben: «Die Jugendlichen sind in einer anspruchsvollen Situation. Natürlich kommt es zu Konflikten. Es ist unsere Aufgabe, damit umzugehen. Mir ist es lieber, sie lassen ihren Ärger oder Frust in der MNA-Wohngruppe ab als im öffentlichen Raum oder in der Schule. In der Beziehung zu den Mitarbeiter*innen können sie den Umgang mit positiven wie auch mit negativen Gefühlen üben.»
Ein gutes Leben aufgebaut
Sandro hat selbst lange MNA betreut. Einer seiner damaligen Klienten ist Samsom. Der heute 22-Jährige kam mit 14 Jahren nach zweijähriger Flucht in der Schweiz an. Ohne Familie, ohne Bezugspersonen. Auch er hatte Konflikte zu lösen – mit anderen Bewohnern, mit seinem Betreuer. Er war lange ohne verlässliche erwachsene Bezugspersonen unterwegs. «Da muss zuerst Vertrauen aufgebaut werden. Das braucht seine Zeit und es kommt ab und an auch zu Missverständnissen», erzählt Sandro. Heute machen die beiden Witze darüber. Samsom sagt: «Ich bin sehr dankbar für all die Unterstützung. Ich konnte mir ein gutes Leben aufbauen.» Er hat die Lehre zum Maler absolviert und ist gerade dabei, sich selbständig zu machen. Ob er seine Träume verwirklichen konnte? «Ich hatte gar keine Vorstellung von dem, was möglich ist. Es ist viel besser. Aber auch sehr streng.» Deutsch lernen, die Schweiz verstehen, sich integrieren. Und dann ist da noch das Zusammenleben in der Wohngruppe.
Für die Besucher*innen ist es eindrücklich, zu sehen, wie die Jugendlichen zusammenleben – obgleich an diesem Tag keiner der anwesenden Bewohner sein Zimmer zeigen will. Welche Einblicke die Jugendlichen geben, entscheiden sie selbst. Privatsphäre geht vor. Die Gruppe besichtigt Aufenthaltszimmer, Bäder sowie Räume für medizinische Beratungen und Coachings. Besonders spannend für die Gäste sind Küche und Esszimmer. Hier bereiten die Jugendlichen morgens ihr Frühstück selbst zu. Mittags und abends erhalten sie Essen vom Caterer. «Bei rund 30 Jugendlichen ist es nicht möglich, dass alle selbst kochen», erklärt Sandro.
Gutes Miteinander ist wichtig
Im Garten endet der Rundgang. Eine kahle Stelle auf der Wiese zeugt vom liebsten Hobby vieler Bewohner: Cricket. Ein Netz schützt das Nachbargebäude vor Bällen. Eine wichtige Massnahme. «Wir legen grossen Wert auf ein gutes Miteinander», sagt Sandro. Obwohl es zwischendurch zu Irritationen kommen kann, gelingt das im Grossen und Ganzen gut. Eine Besucherin fragt Khaled, ob er denn gute Kontakte ins Quartier habe. Die Nachbarn sähe er kaum, antwortet der junge Mann. Aber in Schule und Sportverein sei er sehr gut aufgenommen worden. «Ansonsten lerne ich oder mache meinen Sport», erzählt er. Viel Zeit für den Austausch mit der Nachbarschaft bleibt da nicht übrig.
Herzliche Worte an die Betreuerin
Die Gäste bedanken sich für Khaleds Offenheit. Auch er sagt «Vielen Dank für das Interesse.» Zum Schluss fragt er, ob er noch etwas sagen dürfe. Natürlich darf er. Seine Worte rühren die Anwesenden sichtlich: «Ich möchte mich bei unserer Betreuerin bedanken. Sie tut so viel für uns.»