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Schöne und beunruhigende Fremdkörper

Die Künstlerin Vanessa Billy erhält das Werkjahr Bildende Kunst der Stadt Zürich 2020

Faszinierend und abstossend zugleich, so präsentierten sich jüngst die zotteligen, öligschwarzen Tentakel von Vanessa Billys Werk «Centipedes» im Helmhaus. Sie reckten sich aus dem Boden empor wie Würmer aus dem Erdreich, die gleich nach vorne weiterrobben werden. Oder waren es unberechenbare, wild ausgreifende Fangarme von Urzeitwesen? Überdimensionierte Raupen oder Vergrösserungen von gefährlichen Mikroorganismen oder Darmzotten, geschaffen von der Vermittlungsabteilung eines naturhistorischen Museums? Bei näherem Hinschauen wurde der Fall klarer: Zu erkennen waren Traktorreifen, die flach aufgerollt und – wie ein Kuchen mit Schokolade – mit einer tropfenden schwarzen Silikonmasse übergossen wurden. Oder Rohöl, wie man es auf Bildern von Tankerkatastrophen sieht.

«Centipedes», 2020: Urtümliche Tausendfüsser greifen aus.

Die Bewegung der unheimlichen Viecher zielte zum Glück nicht auf uns, sondern in Richtung dreier knochig wirkender Ringe am anderen Ende des Raumes. Im ersten Moment und aus der Entfernung liessen sie an Reste eines Dinosaurierskeletts oder allenfalls an vergrösserte Markbein-Formen denken. Auch hier offenbarte die nähere Betrachtung, worum es sich handelt: Die Künstlerin hat jeweils drei schalenartige Abgüsse eines gekrümmten Rückens zu einem Kreis verbunden. Man könnte ihnen einen Schubs versetzen, vielleicht würden sie in einem Purzelbaum weiterrollen. Man kann sich auch vorstellen, dass die schwarzen Tentakelwesen auf sie zukriechen, durch sie hindurch. Als befänden wir uns auf einem Abenteuerspielplatz für Monster.

«Ourobouros», 2020: Gebeugte Rücken formen sich zu fragilen Kreisen.

Kurzum: Die Plastiken von Vanessa Billy sind ungewöhnlich und so ausdrucksstark wie assoziationsreich. Vor allem lösen sie eine unmittelbare, fast physische Reaktion aus. Diese changiert zwischen Abstossung, ja sogar Ekel bei den Tentakeln, und einer Faszination, gar einem unmittelbaren Berührungswunsch im Fall der eischalenzarten Rücken. Aber womöglich ist das nur mein persönliches Empfinden? Vielleicht findet jemand auch das Prothesenhafte der Rückenschalen abstossend und die schwarze Masse attraktiv?

Experimentierfeld Material

Um solche irritierende Ambivalenzen geht es der Künstlerin. «Ich versuche instinktive Reaktionen auszulösen, bei denen man körperlich spürt, dass da etwas ist, das uns betrifft, uns anspricht. Es soll kein Schock oder Schrecken sein, eher eine emotionale Unruhe», formuliert sie ihr Anliegen, als ich sie im Spätsommer in ihrem Atelier in einem alten Bürogebäude beim Bahnhof Schwerzenbach besuche.

Vanessa Billy im Atelier.

Im Atelier gibt es kaum freien Raum, denn hier stehen nebst älteren Arbeiten und Werkzeugen in Regalen etliche Modelle und Proben, mit denen Vanessa Billy die Kunstwerke für die Ausstellung im Helmhaus vorbereitet hat, die bis Mitte November dort zu sehen waren: mit schwarzem Silikon übergossene Traktorreifen, bei denen der Vorgang noch nicht ganz geglückt war, Materialproben der Rückenschalen. Der transluzide Effekt erinnert an edelstes Biscuitporzellan. Ich frage nach dem Entstehungsprozess. «Zunächst verwende ich Silicone Body Double – eine Masse, die man für die Maskenbildnerei und medizinische Zwecke benutzt. Man kann sie direkt auf die Haut auftragen. Sie reproduziert alles bis zur letzten Pore. Ausgegossen habe ich sie mit Acrystal Carrara, einer Art Gips, gemischt mit Acryl – es wird sehr hart und hat diese besondere Textur, die an Eierschalen, Muscheln, Knochen erinnert, das fasziniert mich schon sehr.» Vanessa Billy denkt stark vom Material her, experimentiert gerne damit. Das Material diene ihr nicht nur zur Umsetzung oder Illustration einer Idee, sondern verbinde sich mit dieser: «Oft bringt mich das Material dazu, eine Idee weiterzuentwickeln. So entsteht eine Spannung zwischen beidem, und genau diese interessiert mich.»

Aber woher kommt die ursprüngliche Idee, Traktorreifen mit Silikonguss in Monsterwürmer zu verwandeln? Vanessa Billy stolperte über den Bericht eines Bauern, dem aufgefallen war, wie die immer schwereren Traktoren das Erdreich verdichteten und damit die Mikroorganismen verschwanden, die für eine gute Erdqualität und damit letztlich ergiebige Ernten wichtig sind. Der Abrieb der Reifen hinterliess zudem auch Mikropartikel. Der Bauer bastelte solange an seinem Traktor herum, bis dieser wesentlich leichter war. Sein Boden verbesserte sich, er brauchte weniger Dünger. Die Monsterwürmer kann man als verdichtete visuelle Kurzfassung dieser Geschichte sehen: Aus dem Traktorreifen, dem Urheber der Traktorspur, werden durch die Silikonbehandlung Formen, die an die nun wieder lebensfähigen Mikroorganismen erinnern.

Körperverhältnis und Weltverhältnis

Vanessa Billy bringt so auch das Verhältnis von Mikro- und Makrokosmos sowie die Rolle des Menschen darin ins Spiel. Ein Thema, das sie schon länger beschäftigt und das zum inhaltlichen Kern ihrer Arbeit führt. Ausgangspunkt war für sie, als sie vor rund zwanzig Jahren ihr Studium an der angesehenen Kunstschule St. Martin's in London begann, der Bezug des Individuums zur Aussenwelt und damit auch zu all den Materialien, Stoffen und Substanzen, die uns umgeben, prägen, aber auch gefährden, weil sie sich in unserem Körper ablagern oder in ihn eindringen.

Durch die Covid19-Pandemie hat dieses Themenfeld nochmals eine ungeahnte Aktualität erhalten. «Wir bestehen selber zu einem grossen Teil aus diesen Kleinstlebewesen, was wissen wir, was da alles in unserem Körper, in unseren Eingeweiden lebt und uns so oder so beeinflusst? Ich habe einmal, als ich wegen einer Wurmbehandlung meiner Kinder beim Arzt war, Visualisierungen von Viren gesehen, bei denen diese aussehen wie Aliens, mit einem Körper und einer kopfartigen Form, das ist viel beunruhigender als diese hübschen Visualisierungen des Corona-Virus, die wir jetzt sehen. Zugleich erfahren wir gerade dramatisch, wie uns diese Mikroorganismen nun komplett beherrschen, demütig machen.» Wir sind Teil dieser Natur, auch wenn wir meinen, wir würden über ihr stehen.

«Ourobouros»: In sich geschlossene Existenz.

Das Kreatürliche, das unsere condition humaine stärker prägt, als wir oft wahrhaben wollen, ist auch der Ausgangspunkt der Arbeit «Ourobouros» mit den zur Kreisform verbundenen Rücken. «In meiner Arbeit habe ich schon seit einiger Zeit Crevetten gebraucht, deren Form an einen Fötus erinnert, an den Anfang der Evolution, auch wenn sie schon ein fortgeschrittenes Stadium darstellen. Hier gibt es für mich Verbindungen zu unserer Wirbelsäule im gekrümmten Zustand. Es gibt ja diese Bilderserien mit verschiedenen Entwicklungsstadien, an deren Ende der Mensch steht, der sich aufrichtet, während der Affe noch gebeugt ist, mit den vier Pfoten auf der Erde. Das Werk ist zugleich eine Weiterentwicklung einer Arbeit aus dem letzten Jahr, wo ich die Rücken einer Familie abgeformt habe, die wie in einer schlafenden Position auf der Seite liegen – wie Fossilien, wie Muscheln, Reste der zerbrechlichen menschlichen Existenz. Man denkt an die Opfer von Pompei.»

Schönheit als Köder

«Centuries», 2016: Irritierende Balance.

Verfolgt man die Linie der Arbeiten von Vanessa Billy weiter zurück, fällt auf, dass neben der Erdöl- und Körperthematik – besonders stark ist hier die Schaukelfigur einer Hochschwangeren auf dem Bauch – auch die Auseinandersetzung mit Nachrichtentechnologie eine zentrale Bedeutung hat. Es gibt da einen von ihr wie auf einem Tablett angerichteten Kabelsalat, und seit einiger Zeit sind auch Werke mit aufgeschnittenen Kupferkabeln entstanden, wie sie ebenfalls im Helmhaus zu sehen waren. Die Verbindung stellt sich bei etwas Nachdenken rasch her: Erdöl, der wichtigste Treibstoff und zugleich, neben der Radioaktivität, der zerstörerischste Stoff unseres Zeitalters, hat die physische Zirkulation der Menschen entscheidend befördert. Die Nachrichtentechnologie folgte auf dem Fuss und produziert eine Informationsdichte, die zunehmend auch kontrolliert und verwirrt. All die erdölbasierten Errungenschaften, wie etwa die Hypermobilität und die Kunststoffe, die uns scheinbar das Leben erleichtern, strangulieren uns zusehends. Der Künstlerin ist dabei bewusst, dass ihre künstlerischen Materialien, ebenfalls Kunststoffe, hier einer kritischen Hinterfragung bedürfen, damit ihre Werke nicht unglaubwürdig werden. Deswegen experimentiert sie neuerdings mit biologisch abbaubaren Werkstoffen.

«Refresh, Refresh (yellow squeeze»), 2016.

Zu den grössten Irritationen, die Vanessa Billys Werk auslöst, gehört die Schönheit, mit der es häufig anzuziehen vermag. Diese Schönheit kann auch als problematisch wahrgenommen werden: zu dekorativ angesichts der grundsätzlichen und ernsthaften Probleme, die hier behandelt werden. Doch der Künstlerin geht es genau darum: Man fühlt sich angezogen – durch die Form, durch die Farbe –, beginnt genauer hinzuschauen, stellt Fragen. «Das ist wie mit giftigen Pilzen, sie sind erst sehr schön, doch genau das täuscht über die Gefahr hinweg. Mich interessieren die verschiedenen Lektüreebenen eines Werks, die sich erst nach und nach entfalten.» Die Schönheit ist der Köder, und wenn er funktioniert, wird man nicht mehr so schnell vom Haken gelassen.

Die beeindruckende künstlerische Kohärenz der Arbeiten von Vanessa Billy, mit der sie seit etlichen Jahren Themen verfolgt, die auf wichtige Dimensionen unseres Alltags und unseres Lebens in einer durch unser Verhalten existentiell gefährdeten Umwelt hinweisen, hat die Kommission für Bildende Kunst der Stadt Zürich dazu bewogen, Vanessa Billy für das Werkjahr Bildende Kunst vorzuschlagen. Die Auszeichnung wurde ihr jüngst von der Stadtpräsidentin übergeben.

Text: Barbara Basting

Foto: Ausstellungsansichten Helmhaus Zürich: Zoe Tempest // Porträt Vanessa Billy: Gian Marco Castelberg // «Centuries», 2016: Jacopo Menzani // «Refresh, Refresh (yellow squeeze)», 2016: Kunstsammlung Stadt Zürich

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