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«Kein Lärmschutz kostet auch»

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Eine Studie bringt neue Erkenntnisse zum Nutzen von Tempo 30. Rainer Zah, Leiter Geschäftsbereich Umwelt beim Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich (UGZ), erklärt im Interview die Hintergründe – und spricht ausserdem über den volkswirtschaftlichen Nutzen der geplanten Temporeduktionen.

27. April 2022

Rainer Zah, Leiter Geschäftsbereich Umwelt beim Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich
Rainer Zah, Leiter Geschäftsbereich Umwelt beim Umwelt- und Gesundheitsschutz Zürich

Eine gemeinsame Studie von UGZ und BAFU zeigt, dass Tempo 30 die Lärmbelästigung deutlich mehr reduziert als dies physikalisch nachweisbar ist. Welche Bedeutung hat diese Studie für die Stadt Zürich?
Rainer Zah: Sie ist ein wichtiges Puzzleteil. Die Studie zeigt, dass die positive Wirkung von Tempo 30 viel stärker ist als allgemein angenommen. Die Einhaltung der Lärmschutz-Grenzwerte für alle Betroffenen in der Stadt Zürich ist somit keine Utopie mehr – auch wenn es noch ein weiter Weg ist. Auch für die Stadtentwicklung ist die Studie sehr bedeutsam.

Inwiefern wirkt sich die Studie denn auf die Stadtentwicklung aus?
Das erwartete Bevölkerungswachstum auf eine halbe Million Einwohnende bis 2040 setzt neuen Wohnraum voraus. Das ist nur durch verdichtetes Bauen möglich. Verdichten müssen wir auch entlang der Hauptverkehrsachsen, an denen die Wohndichte schon heute hoch ist – so hat es die Bevölkerung mit dem Siedlungsrichtplan beschlossen. Neuer Wohnraum darf aber nur dort entstehen, wo die Lärmschutzgrenzwerte eingehalten werden. Darum ist der wissenschaftliche Nachweis, wie gross der Nutzen von Tempo 30 ist, so bedeutsam.

Kann die zusätzliche Entlastung bei zukünftigen Bauprojekten überhaupt berücksichtigt werden?
Im Moment noch nicht. Wie gesagt: Es ist noch ein weiter Weg. Dazu ist eine Revision der Lärmschutzverordnung nötig. Dafür wiederum muss die Studie zuerst schweizweit ausgedehnt und repliziert werden. Die in Zürich durchgeführte Studie zeigt jedoch sehr deutlich, wie wichtig die Geschwindigkeitsreduktionen für das Wohlbefinden der Bevölkerung sind!

Kann man diese spürbare Entlastung wirklich wissenschaftlich nachweisen, obwohl sie nicht physikalisch messbar ist?
Ja, auf jeden Fall. Solche Belästigungsuntersuchen sind Standard in der Lärmwirkungsforschung.

Wie genau funktioniert so eine Belästigungsuntersuchung?
Dieselben Personen werden vor und nach einer relevanten Änderung des physikalischen Schallpegels gefragt, wie stark sich der Lärm auf Wohlbefinden, Schlaf und Sicherheitsempfinden auswirkt. So erhält man eine individuelle Beurteilung der Belästigung. Belästigungsbeurteilungen kann man nun mit dem jeweils berechneten Lärmpegel vergleichen. In unserem Fall haben wir die Anwohnenden vor und nach der Einführung von Tempo 30 befragt. Dabei hat sich gezeigt, dass gleich hohe Lärmpegel bei Tempo 30 als weniger belästigend oder schlafstörend empfunden werden als bei Tempo 50. Zudem fühlen sich die Befragten sicherer bei Tempo 30.

Wie erklären Sie, dass die spürbare Entlastung so viel stärker ist als die messbare?
Wir gehen davon aus, dass die Lärmcharakteristik eine Rolle spielt.

Lärm kann also bei gleichem Schallpegel unterschiedlich stark stören?
Genau. Bei Tempo 30 verstetigt sich der Verkehrsfluss, die Maximalpegel der Vorbeifahrten gehen stark zurück und der Anstieg des Lärmpegels erfolgt langsamer. Bei gleichem Schallpegel wird der Lärm bei Tempo 30 als gleichmässiger empfunden, was dann in der Nacht zu weniger Aufwachreaktionen führt. Zudem erhöhen sich die Sicherheit und das Sicherheitsempfinden bei Tempo 30.  

Wieso verstetigt sich der Verkehrsfluss bei Tempo 30?
Auf übersichtlichen Tempo-30-Strecken wird tendenziell weniger gebremst und beschleunigt. Dadurch gibt es weniger Stop-and-Go. Der Effekt wird noch verstärkt, wenn bei Tempo 30 auf Lichtsignalanlagen und Fussgängerstreifen verzichtet werden kann.

Obwohl die Lärmbelästigung stark zurückgeht, gibt es Bedenken, was Tempo 30 angeht. Zum Beispiel was die Attraktivität des ÖV angeht.
Durch Tempo 30 werden sich die Fahrzeiten des ÖV auf gewissen Abschnitten um höchstens wenige Minuten verlängert. Meiner Meinung nach ist das nicht relevant für die Wahl des persönlichen Verkehrsmittels. Es gibt andere Faktoren, die hier eine viel grössere Rolle spielen.

Zum Beispiel?
Eine hohe Taktfrequenz, Zuverlässigkeit, gute Umsteigebeziehungen und Komfort.

Das kostet aber Geld – und das neue Temporegime führt beim ÖV ja ohnehin schon zu 20 Millionen Franken Folgekosten pro Jahr. Ist da nicht eher ein Abbau zu befürchten?
Die 20 Millionen pro Jahr sind eine Maximalabschätzung und nehmen bis zu einem gewissen Grad auch den zukünftigen Ausbau des ÖV infolge Bevölkerungswachstum vorweg. Es wurden auch noch nicht alle Optimierungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft. Ein optimierter Fahrplan, konsequente ÖV-Priorisierung, der Abbau von Lichtsignalanlagen, die Verstetigung des Verkehrsflusses und die Netto-Null-Strategie des Stadtrates, der auch eine Reduktion des motorisierten Individualverkehrs anstrebt, werden zu einer Reduktion dieser Kosten führen.

Aber die Kosten sind doch ein sehr relevanter Faktor.
Natürlich. Aber diese Kosten relativieren sich, wenn man an die Alternativen denkt. Kein Lärmschutz kostet auch: Lärm verursacht hohe Gesundheitskosten. Und das übrigens nicht nur bei Menschen, die sich durch den Lärm tatsächlich gestört fühlen. In Studien wurde bewiesen, dass Menschen, die sich nicht durch Lärm gestört fühlen, trotzdem gesundheitliche Folgen durch Lärm davontragen. Dazu kommt der Volkswirtschaftliche Schaden. Zahlreiche Bauprojekte werden vom Gericht blockiert, weil bisher zu wenig Lärmschutzmassnahmen an der Quelle umgesetzt wurden. Dadurch werden Liegenschaften entwertet und gute Architektur wird erschwert oder im schlimmsten Fall verunmöglicht.

Aber wenn die Temporeduktion auf den Hauptachsen zu Schleichverkehr durch die Quartiere führt, leiden die Quartierbewohner unter stärkerer Lärmbelastung.
In der Regel bleibt die Hauptachse auch mit Tempo 30 die schnellste Verbindung, da man hier Vorfahrt hat. Ausserdem wären flankierende Massnahmen möglich, um unerwünschte Verkehrsverlagerungen verhindern. Andernfalls wäre Tempo 30 keine verhältnismässige Massnahme – und damit auch nicht bundesrechtskonform.

Führt Tempo 30 nicht zu mehr Stau?
Im Gegenteil. Unter gewissen Voraussetzungen kann Tempo 30 den Verkehrsfluss verstetigen und damit die Kapazität theoretisch sogar erhöhen. Insbesondere dort, wo auf Lichtsignalanlagen und Fussgängerstreifen verzichtet werden kann. Im Übrigen wird die Kapazität eines Strassenabschnitts in der Stadt nicht durchs Tempo begrenzt, sondern durch geregelte Knoten. Ein geringeres Tempo führt zu einem kürzeren Bremsweg und somit zu einem geringeren Sicherheitsabstand zwischen den Fahrzeugen. Die Kapazität beträgt bei freien Strecken ohne Knoten sowohl bei Tempo 30 als auch bei Tempo 50 etwa 1 Fahrzeug pro 2 Sekunden.

Was will eigentlich die Bevölkerung?
Das haben wir im Rahmen der Studie ebenfalls abgefragt. Eine grosse Mehrheit von 70 % hat sich Tempo 30 an ihrem Strassenabschnitt gewünscht, bevor das neue Temporegime eingeführt wurde. Nach der Umstellung stieg die Zustimmung bei den Anwohnenden sogar auf 80 %. Auch eine Leserumfrage der NZZ hat kürzlich ergeben, dass der Verkehr in Zürich als das grösste Lärmproblem wahrgenommen wird. Dabei hat sich eine Mehrheit der befragten NZZ-Lesenden für Tempo 30 ausgesprochen.

Was passiert jetzt mit den Ergebnissen der Studie zur Belästigungswirkung?
Wir werden die neuen Erkenntnisse in zukünftige Gesetzesrevisionen auf Bundesebene einbringen. Aber zuerst muss die Studie auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden.

Weiterführende Informationen:

Bericht zur Studie 

Interview mit der stellvertretenden Direktorin der Dienstabteilung Verkehr, Julie Stempfel