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Grabungstagebuch: Was Pflanzensamen über Sozialgeschichte erzählen

Niels Bleicher

Niels Bleicher ist wissenschaftlicher Leiter der Ausgrabung Parkhaus Opéra. Der Archäologe und Dendrochronologe ist fester Mitarbeiter im Amt für Städtebau.

Kübel an Kübel reihen sich im Fundarchiv. Nicht von Keramikfunden oder Knochen ist hier die Rede, sondern von Botanikproben. Aber wieso Botanik? Sind wir nicht Archäologen? Pfahlbauforschung ist interdisziplinär. Das hat eine lange Tradition: Schon 1866 hat der Zürcher Botanikprofessor Oswald Heer ein richtungsweisendes Standardwerk vorgelegt. In «Die Pflanzen der Pfahlbauten» publizierte er die ersten Ergebnisse zum vorgeschichtlichen Ackerbau der 1854 frisch entdeckten Pfahlbauten. Die Archäobotanik war geboren oder besser: gekeimt.

Dieses Fach – halb Archäologie halb Botanik – krempelt seither unsere Vorstellungen der Wirtschafts-, Vegetations- und Sozialgeschichte regelmässig um. Zwar gibt es auch an vielen Fundstellen ausserhalb der Seeufersiedlungen verkohlte Pflanzenreste, aber nichts hält mit der Vielfalt der feucht erhaltenen Kulturschichten der Pfahlbauten mit. Sie enthüllen den Speiseplan und welche Tätigkeiten den Jahresverlauf prägten. Was war der wichtigste Kalorienlieferant (damals beurteilte man im Gegensatz zu heute wohl eher einen flachen Bauch als Problemzone)? Wie ging man mit Missernten oder ausgelaugten Böden um? Gab es Gewürze oder Heilpflanzen? Welche wirtschaftlichen Schwerpunkte setzte man im Verlauf der Jahrhunderte? Und wie wichtig waren Sammelpflanzen im Vergleich zum wichtigsten Wirtschaftszweig Ackerbau? Wichtig! Besonders in Notzeiten.

 Zwischen den Disziplinen

In einer anderen Pfahlbausiedlung fand man Schichten von geknackten Haselnüssen, die auf verkohlten Häuserruinen lagen. Der Getreidevorrat war verbrannt. Ob die Nüsse den Verzweifelten geholfen haben, den Winter zu überleben, wissen wir nicht. Die Archäobotanik zeigt die Vorzeit in allen Details – den fruchtbarsten und den furchtbarsten. Jetzt nehmen wir systematisch Proben, weil wir viele neue Fragen haben: zum Beispiel, ob alle Haushalte gleich wirtschafteten, oder ab wann es Spezialisten gab. Fragen der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit Pflanzensamen beantworten – das nenne ich interdisziplinär.

(Tages-Anzeiger, 09. August 2010)

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