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Der Landesstreik 1918 in Zürich und der Schweiz

Im Herbst 1918 wurde die Stadt Zürich militärisch besetzt. Der Protest gegen den Truppenaufmarsch löste den nationalen Landesstreik aus, die schwerste politische Krise des Bundesstaats. Obwohl der Streik ergebnislos abgebrochen wurde, ebnete er den Weg für verschiedene soziale und politische Reformen.

Von Barbara Kieser, Stab Stadtpräsidentin und Nicola Behrens, Stadtarchiv Zürich

Das Leben in der Schweiz im Jahr 1918 war hart. Das Land war zwar vom Ersten Weltkrieg verschont geblieben, weite Teile der Bevölkerung litten aber unter Versorgungsengpässen, tiefen Löhnen und der Teuerung. Besonders betroffen waren die lohnabhängigen Arbeiterinnen und Arbeiter, während Teile des Unternehmertums und der Bauernschaft von der Krise zu profitieren vermochten. Die politischen und gesellschaftlichen Gräben vertieften sich. Die gewerkschaftlich organisierte Arbeiterschaft und einzelne Angestelltenverbände wehrten sich in verschiedenen zeitlich und örtlich begrenzten Streiks gegen ihre politische Marginalisierung. In bürgerlichen Kreisen und in der Armeeführung fürchtete man sich angesichts dieser Streikwelle und angesichts der Aufstände der Arbeiterschaft im Ausland vor einem kommunistischen Umsturz – unbegründet, wie wissenschaftliche Untersuchungen im Nachgang zeigten.

Hungerbrunnen in Wipkingen

Zürich wird militärisch besetzt

Am 30. September und 1. Oktober 1918 streikten die Zürcher Bankangestellten. Unterstützt wurden sie dabei von der lokalen Arbeiterunion. Der Zürcher Regierungsrat befürchtete einen Aufstand und bat den Bundesrat Ende Oktober um militärische Unterstützung. Auf Antrag der Armeeführung unter General Ulrich Wille beschloss der Bundesrat die Mobilisierung der Armee und liess demonstrativ Truppen in Zürich einmarschieren. Am 6. November 1918 standen 8'000 Soldaten in der Stadt. Gleichzeitig verlegte der Zürcher Regierungsrat seinen Sitz in die Kaserne, wo er unter Militärschutz tagte.

Aufmarsch auf der Kasernenwiese

Die Präsenz des Militärs in Zürich war allgegenwärtig. An manchen Orten waren Maschinengewehre in Stellung. Soldaten wurden vor Amts- und Dienstgebäuden, Banken, Konsulaten, auf Brücken und Strassenkreuzungen postiert und fuhren mit aufgepflanzten Bajonetten auf den Plattformen der Strassenbahnen mit. Infanterie und Kavalleriepatrouillen kontrollierten auch die Aussenquartiere.

Das Militär spielte im Landesstreik eine entscheidende Rolle. General Wille führte die Besetzung Zürichs mittels gezielter Truppenmanöver bewusst herbei. Neben der Angst vor einer Revolution ging es Teilen der Armeeführung auch darum, der Arbeiterschaft eine Lektion zu erteilen und sie einzuschüchtern.

Der Landesstreik wird ausgerufen

Aus Protest gegen den Truppenaufmarsch rief das Oltener Aktionskomitee, der nationale Führungsstab der organisierten Arbeiterschaft, für den 9. November 1918 einen eintägigen Proteststreik in 19 Städten aus. In Zürich beschloss die Arbeiterunion, den Streik darüber hinaus fortzusetzen. Am Tag darauf löste die Armee eine Demonstration auf dem Zürcher Münsterplatz gewaltsam auf. Drei Arbeiter wurden verletzt, ein Soldat starb.

Paradeplatz, Landesstreik wird ausgerufen

Das Oltener Aktionskomitee beschloss, sich den Zürcher Streikenden anzuschliessen, und rief für den 12. November 1918 den landesweiten unbefristeten Generalstreik aus. Folgende neun Forderungen wurden aufgestellt:

  • sofortige Neuwahl des Nationalrats gemäss dem am 13. Oktober 1918 angenommenen Proporzwahlrecht
  • Einführung des Frauenstimmrechts
  • allgemeine Arbeitspflicht
  • 48-Stunden-Woche
  • Armeereform
  • Sicherung der Lebensmittelversorgung
  • Alters- und Invalidenversicherung
  • staatliches Aussenhandelsmonopol
  • Vermögenssteuer zum Abbau der Staatsverschuldung.

Streikabbruch, um einen Bürgerkrieg zu verhindern

Schweizweit legten gemäss Schätzungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes 250'000 Personen die Arbeit nieder. Der Bundesrat reagierte umgehend und berief für den gleichen Tag eine ausserordentliche Sitzung der Bundesversammlung ein. Der Bundesrat kündigte dabei zwar gewisse soziale und politische Reformen an. Er ging aber nicht auf die Forderungen der Streikenden ein und richtete ein Ultimatum an das Aktionskomitee, den Streik umgehend abzubrechen.

Am frühen Morgen des 14. November 1918 versammelten sich das Aktionskomitee und die sozialdemokratische Nationalratsfraktion und brachen den Streik ab, um einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern. Am Tag darauf wurde die Arbeit fast überall wieder aufgenommen. In Zürich streikten Holz- und Metallarbeiter bis zum Wochenende weiter.

Allgemein verlief der Landesstreik ruhig. Nur an wenigen Orten geriet die Lage ausser Kontrolle, in der Regel nach Aufmärschen des Militärs. Am folgenschwersten war dies in Grenchen, wo am 14. November – nachdem der Landesstreik offiziell bereits beendet war –  drei junge Streikende von Soldaten erschossen wurden.

Die Folgen des Landesstreiks

Obwohl der Landesstreik einer Niederlage der Arbeiterschaft gleichkam, ging sie langfristig doch gestärkt daraus hervor. Sie wurde vermehrt in politische Entscheidungsprozesse einbezogen und 1919 wurde das erste Mal ein Sozialdemokrat zum Präsidenten des Nationalrats gewählt. 1943 wurde Ernst Nobs, ehemaliger Zürcher Regierungsrat und Stadtpräsident und Mitglied des Oltener Aktionskomitees, zum ersten SP-Bundesrat gewählt.

Die zentralsten Forderungen des Landesstreiks wie die 48-Stunden-Woche, die Alters- und Hinterbliebenenversicherung oder das Frauenstimmrecht wurden im Laufe der Zeit erfüllt. Der Landesstreik war wohl nicht die Ursache dazu, dürfte aber zur Beschleunigung beigetragen haben.
 

Quellen: Stadtarchiv Zürich, Historisches Lexikon der Schweiz

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