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Europa ist beim Flüchtlingsschutz kein Vorbild (mehr)

26. Oktober 2017 / Natalia Huser, Christof Meier


Die Zürcher Migrationskonferenz 2017 widmete sich dem internationalen Flüchtlingsschutz und der Frage, wie sich dieser angesichts der aktuellen Problemstellungen neu denken lässt. Dabei wurden sowohl globale als auch europäische Ansätze und Ideen skizziert, vorgestellt und diskutiert. Direkten Bezug zu Zürich hatten dabei die Informationen zur Stadt-zu-Stadt-Projektpartnerschaft mit der «Erstfluchtstadt» Tyros im Libanon oder zur Beteiligung Zürichs an der Initiative «Solidarity Cities» von Eurocities.

Insgesamt erschien den geladenen Fachexperten die Situation in Europa als blockiert, wenig innovativ und nicht mehr sach- und flüchtlingsgerecht. Anregungen und Anhaltspunkte ergeben sich eher aus historischen Referenzen – so boten beispielsweise phönizische Handelsstädte oder später die Hansestädte Flüchtlingen und anderen Zugezogenen nicht nur Schutz, sondern durch eine liberale Wirtschaftsordnung auch Perspektiven – oder durch den Blick auf Regionen ausserhalb Europas. Interessante Modelle der interstaatlichen Zusammenarbeit finden sich heute in Lateinamerika und innovative Akzente bei der Aufnahme von Flüchtlingen in afrikanischen Ländern.

Rund 260 Interessierte nahmen an der Zürcher Migrationskonferenz teil.

260 Fachleute aus dem Migrations- und Integrationsbereich nahmen am 7. September 2017 an der 15. Zürcher Migrationskonferenz teil, die wie jedes Jahr durch die städtische Integrationsförderung und die Zürcher Fachorganisation AOZ organisiert wurde. Inhaltliche Fach- und Inputreferate hielten Daniel Endres, Direktor «Comprehensive Responses» beim UNHCR, Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) und Philipp Aerni, Direktor des Center for Corporate Responsibility and Sustainability (CCRS) an der Universität Zürich. Die Teilnehmenden begrüsste Stadtrat Raphael Golta, und die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch stellte vor, was die Stadt Zürich konkret unternimmt.

Die diesjährige «Carte blanche» für einen Gast ging an den Illustrator Olivier Kugler. Er hat über vier Jahre hinweg im Auftrag von «Ärzte ohne Grenzen» syrische Flüchtlinge getroffen, interviewt und gezeichnet und öffnete an der Konferenz mit Beispielen aus seiner Publikation «Dem Krieg entronnen» den Blick auf einzelne Menschen und ihre Schicksale. Trotz all der Hindernisse haben sich die Flüchtenden ihm gegenüber wenig beschwert. Ihr Wunsch war es, eine Arbeit zu finden und ihr Leben in Friede und Freiheit fortsetzen zu können.

Ausschnitt einer Illustration von Olivier Kugler aus «Dem Krieg entronnen», © Edition Moderne.

Die New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten

Langwierige und neu ausbrechende Konflikte und die damit einhergehenden Vertreibungen von Millionen von Menschen brachten die internationale Gemeinschaft dazu, den Flüchtlingsschutz zu überdenken. Die 2016 verabschiedete «New Yorker Erklärung für Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten» ist laut Daniel Endres Grundlage für einen Paradigmenwechsel in der globalen Flüchtlings- und Migrationspolitik. Es ist ein Dokument, das auf der Genfer Konvention von 1951 beruht und folglich Kernelemente beinhaltet, die für die 193 Mitgliedstaaten der Generalversammlung der Vereinten Nationen rechtlich bindend sind.

Der umfassende Rahmenplan regelt die Flüchtlingsmassnahmen und verfolgt vier Zielsetzungen: den Druck auf die betroffenen Aufnahmeländer zu mindern, die Eigenständigkeit von Flüchtenden zu fördern, Resettlements in Drittstaaten auszuweiten und die Unterstützung der freiwilligen Rückkehr in das Herkunftsland. Die Bestimmungen basieren auf einem gesamtgesellschaftlichen Ansatz, der einen politischen Willen auf höchster Ebene einfordert, aber zudem eine enge Verbindung braucht von erfahrenen wie neuen Akteurinnen und Akteuren aus der Privatwirtschaft, dem Finanzwesen, nichtstaatlichen Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Forschung. Während die New Yorker Erklärung in Europa bisher kaum auf Resonanz gestossen ist, wurden in einzelnen Regionen Lateinamerikas und Ostafrikas gemäss Daniel Endres bereits verschiedene Abkommen abgeschlossen und flüchtlingsgerechtere Massnahmen eingeleitet und umgesetzt.

Europa sollte eine Vorbildfunktion haben

Mehrere publizierte Studien und Berichte verdeutlichen, dass in Europa die humanitäre Hilfe zu träge und nur wenig effizient abläuft. Asylsuchende müssen oft monatelang in einem Zustand der Ungewissheit verharren. Gerald Knaus, Kopf des sogenannten «Merkel-Plans» von 2015, einem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei, will mit seinem «Rom-Plan» die humanitären Grundsätze und das Recht auf Asyl verteidigen sowie mit schnellen Asylverfahren und der geregelten Aufnahme von Menschen aus Drittstaaten die Zuwanderung von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten reduzieren und für die Betroffenen sicherer gestalten.

Gerald Klaus entwickelt seine Ideen und Konzepte im direkten Austausch mit Flüchtlingen, Verwaltungen und Regierungen laufend weiter. Er sucht nach pragmatischen Lösungsansätzen für eine humane europäische Grenz- und Asylpolitik und fordert von Europa eine Vorbildfunktion. Er bleibt dabei optimistisch, obwohl er zurzeit vor allem eine Debatte sieht, die von Skepsis und Ablehnung geprägt ist. Vielfach seien es parteiideologische oder gar fremdenfeindliche Argumente, die echte Fortschritte verhindern. Es fehle letztlich weder am Geld oder an Konventionen, sondern am politischen Willen.

Begegnungen, Diskussionen und Austausch während der Konferenzpause.

Wirtschaftlicher Aufschwung durch Geflüchtete (in neuen Städten)

Aufstieg der Hanse im Mittelalter, aus der Präsentation von Philipp Aerni.

Die Frage, warum Flüchtende so viel riskieren, um nach Europa zu kommen, lässt sich neben der Not und Bedrohung im Herkunftsland auch mit dem Willen zur Arbeit beantworten. So sind gemäss Philipp Aerni «Wirtschaftsflüchtlinge» oft Menschen, die in den de facto feudalistischen Strukturen in ihren Ländern keine Zukunftschancen mehr sehen und in der Auswanderung die einzige Möglichkeit erkennen, der wirtschaftlichen Misere zu entfliehen. Viele von ihnen haben ein grosses wirtschaftliches Potenzial, aber dieses liege brach und werde verschwendet. Dass es zum Wohle aller genutzt werden kann, zeigt die Geschichte. So haben sich beispielsweise phönizische Handelsstädte ganz anders entwickelt als römische Garnisonsstädte und auch der Aufstieg der Hansestädte im Mittelalter lässt sich insbesondere durch liberale Wirtschaftsordnungen und den Zuzug von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten erklären.

Wie die «Qualified Industrial Zones» in Jordanien und Ägypten oder das wirtschaftliche Wachstum Istanbuls zeigen, sind gemäss Philipp Aerni liberale Rahmenbedingungen auch heute erfolgsversprechende Ansätze, die genutzt werden können, um Flüchtlingen eine Zukunft aufzuzeigen – insbesondere in der Nähe ihrer Heimatländer. Konkrete Ideen dazu gehen in die Richtung von privat verwalteten Wirtschaftszonen in betroffenen Ländern, die langfristig nachhaltiger wären als bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Flüchtlingen. Zur Umsetzung brauche es jedoch Geschichtskenntnisse und politischen Mut, meint Aerni.

Städte als internationale Akteure

Auch wenn – oder gerade weil – die Schweiz eine «Insel der Glückseeligen» sei, wie es der ehemalige deutsche Botschafter in der Schweiz Otto Lampe einst formulierte, ist für Stadtpräsidentin Corine Mauch das asylpolitische Engagement der Stadt Zürich auf lokaler wie internationaler Ebene unabdingbar. Die europäische Initiative «Solidarity Cities» ist dafür ein gutes Beispiel, das Austausch, Zusammenarbeit und Solidarität demonstriert. Konkret hat Zürich in diesem Kontext kürzlich (zusammen mit Amsterdam) die griechische Stadt Thessaloniki beratend unterstützt bei der Planung von informellen Bildungsangeboten für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge.

Statement der Stadtpräsidentin Corine Mauch zu «Solidarity Cities».

Weiterhin engagiert bleibt die Stadt auch in ihrer 2015 lancierten Unterstützung von sogenannten «Erstfluchtstädten», die nun in ihre zweite Phase geht. Im Rahmen einer Projektpartnerschaft wird Zürich die südlibanesische Hafenstadt Tyros «von Stadt zu Stadt» unterstützen, dies in enger Zusammenarbeit mit UN Habitat. Die Kooperation verfolgt einen nachhaltigen, längerfristig wirkenden Ansatz, der sowohl die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung als auch die der dort lebendenden Flüchtlinge berücksichtigt.

Der Blick nach aussen lohnt sich

Diskussionsrunde mit Gerald Knaus, Daniel Endres und Philipp Aerni, moderiert von Rebekka Salm.

Im gemeinsamen Gespräch waren sich die Referenten der Konferenz darüber einig, dass der europäische Flüchtlingsschutz neu gestaltet werden muss und dass es dazu gesamtgesellschaftliche Strategien braucht. Also weniger «Silo-Denken» und mehr Verflechtung von Wissen und Erfahrung, weniger Top-Down-Prozesse, statt dessen mehr direkte Zusammenarbeit mit Beteiligten und Betroffenen, insbesondere auch mit den Städten. Gäbe es diese nicht, seien auch gut durchdachte und politisch gewollte Pläne zum Scheitern verurteilt.

Von genereller Bedeutung sei zudem, dass Fluchtbewegungen nicht nur aus einem «humanitären» Blickwinkel betrachtet werden dürfen, sondern dass Geflüchtete immer als Teil der Gesellschaft verstanden werden müssen, in denen sie Schutz finden. Ihre lokale Integration vor Ort ist zentral und von nachhaltiger Bedeutung – und sie bedingt zum Nutzen aller die Möglichkeit einer beruflichen und wirtschaftlichen Perspektive. Dass dies nicht nur in Europa der Fall sein sollte, ergibt sich schon nur dadurch, dass die Mehrheit aller Flüchtlinge «in der näheren Region» bleibe. Deshalb gelte es auch, die grossen Flüchtlingslager neu zu denken, und es sei erfreulich, dass sich diesbezüglich in Ländern wie Dschibuti, Äthiopien oder Uganda spannende, kreative und teils vielversprechende Veränderungen zeigen – es seien definitiv nicht die europäischen Staaten, die innovativ seien und auf das Potenzial der Geflüchteten setzten. Daher lohne sich der Blick nach aussen, und die positiven Beispiele sollten Europa als Anregung dienen, selbst Fortschritte einzuleiten.

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