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ZRH3039 – Eine Altersgruppe im Fokus

Die 30- bis 39-Jährigen sind die Zukunft der Stadt Zürich: Jede/r Fünfte gehört heute in diese Alterskategorie, über die Hälfte davon ist im Ausland geboren. Demokratische Mitsprache und formelle politische Teilhabe hat die für die Stadtgesellschaft zentrale Altersgruppe jedoch nur ungenügend – wie prägt dies die Stadt Zürich?

Anna Schindler, 04.09.2018

«Gewiss, man sieht in New York auch etwas anderes als nur Amerika: nur die kleinen Städte und die kleinen Länder sind ganz sie selbst – eine wirkliche Hauptstadt wächst über ihre eigenen Grenzen hinaus.» So schreibt die französische Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir am 9. April 1947 in ihrem Tagebuch, das sie auf den vier Monaten ihrer Reise quer durch die grossen Städte des Amerika der Nachkriegsjahre begleitet. «Es hiesse, eine seltsame Liebe zu Amerika bekunden, wollte man New York – unter dem Vorwand, es stünde der ganzen Welt offen – für nichtamerikanisch erklären.»

Zürich ist nicht New York – aber vielleicht etwas unschweizerischer als andere Städte hierzulande. Zürich übt nicht dieselbe Faszination wie diejenige Stadt aus, die in der westlichen Welt als Inbegriff der Grossstadt, des Schmelztiegels von Kulturen, Hautfarben, Herkunftsländern, als Symbol für den Aufbruch in neue, fremde, harte Welten gilt. New York hat das Bild einer Metropole mit einer Skyline von Wolkenkratzern und Strassenschluchten zwischen vieltausendfenstrigen Fassaden, an deren Fuss ein farbiges Durch- und Miteinander auf den Bürgersteigen herrscht, geprägt wie keine andere Stadt. In Bezug auf die Weltoffenheit aber steht das zwanzigmal kleinere Zürich New York nichts nach – im Gegenteil.

Trailer ZRH3039

Zürich ist bei den 30- bis 39-Jährigen beliebt: Sie bilden die grösste Altersgruppe und erreichen laut Prognosen demnächst die 100‘000er-Marke. Rund die Hälfte von ihnen hat keinen Schweizer Pass und kann weder wählen noch abstimmen. 90 Prozent der 30–bis 39-Jährigen sind arbeitstätig, vorzugsweise Vollzeit. Viele von ihnen sind geografisch mobil. Die Stadtentwicklung Zürich geht den verschiedenen Lebensrealitäten und Fragestellungen dieser Altersgruppe nach im Rahmen des Projekts «ZRH3039 – Eine Altersgruppe im Fokus».

Entwicklung der 10-Jahres-Alterskohorten in der Stadt Zürich. Die 30-39-Jährigen stellen die am stärksten vertretene Kohorte dar.
Bevölkerung Stadt Zürich, Entwicklung der 10-Jahres-Alterskohorten (absolute Zahlen), Quelle: Open Data Katalog

In den vergangenen zehn Jahren hat die Limmatstadt ihr Gesicht grundlegend gewandelt. Ihre Bevölkerung wird immer internationaler und immer jünger. Der Altersdurchschnitt (Medianalter) aller Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher liegt Anfang 2018 bei 37,6  Jahren, in New York bei 38 Jahren. Massgeblich für diese tiefe Zahl, die seit 1993 kontinuierlich sinkt, ist vor allem eine Altersgruppe: die Kohorte der 30- bis 39-Jährigen. Sie sind heute mit über 90’000 Personen die grösste Altersgruppe in der Stadt Zürich, seit 25 Jahren durch die internationale Zuwanderung stetig gewachsen, und machen 21 Prozent der städtischen Bevölkerung aus – in New York sind es 16 Prozent. Der Anteil der im Ausland Geborenen beträgt in Zürich seit 2009 die Mehrheit der Altersklasse: über 55 Prozent – im Vergleich dazu liegt der Anteil in der Gesamtstadt bei 40 Prozent.

Rund 50% der 30-39-Jährigen arbeiten in einem akademischen Beruf.
Ausgeübter Beruf bei den 30-39-Jährigen in der Stadt Zürich, Quelle: SAKE 2016

Dieser Anteil hat sich bei den 30- bis 39-Jährigen seit 1993 verdoppelt: Die Altersgruppe wächst primär durch Migrantinnen und Migranten. Sie kommen der Arbeit wegen: In neun von zehn Fällen sind die  30- bis 39-jährigen Stadtzürcherinnen und -zürcher erwerbstätig und dies mehrheitlich Vollzeit und in akademischen Berufen. Sieben von zehn haben einen Tertiärabschluss, 30 Prozent verdienen in den oberen und obersten Lohnklassen: 50 Franken und mehr pro Arbeitsstunde. Das heisst: Die Altersgruppe zwischen 30 und 39 ist für die Wirtschaft der Stadt Zürich enorm wichtig, gesellschaftlich aber hat sie ein Profil, das sich von allen anderen Altersgruppen der Stadt unterscheidet. Die 30- bis 39-jährigen Zürcher/innen sind in hohem Masse in den Arbeitsmarkt integriert, jedoch weitgehend von demokratischer Mitsprache ausgeschlossen.

«Das Leben nimmt hier eine überspannte Dimension an, weil man fühlt, dass man sich an einem Kreuzweg der Welt befindet», schreibt Simone de Beauvoir 1947 über New York. Einen Kreuzweg oder einen Brennpunkt auf der globalen Karte der internationalen Migration stellt Zürich 2018 für die 30- bis 39-Jährigen dar. Nur 5.5 Prozent der Altersklasse lebt seit der Geburt in Zürich, knapp 37 Prozent sind direkt aus dem Ausland hergezogen, knapp 58 Prozent aus der Schweiz. Entsprechend vielfältig ist diese Altersgruppe: Sie steht stellvertretend für eine Stadt, die sich mehrheitlich aus Minderheiten zusammensetzt – und erinnert auch damit an den Melting Port New York ( 43,1% Weisse, 24,4% Afroamerikaner und Schwarze, 29% Hispanos oder Latinos, 13,7% Asiaten…).

  

Beinahe die Hälfte der 30-39-Jährigen kann demokratisch nicht mitreden.
Anteil Personen ohne kommunales Stimm- und Wahlrecht in der Stadt Zürich (10-Jahres-Altersklasse), Quelle: Statistik Stadt Zürich

Dieser Schmelztiegel ist für die Stadt Zürich wichtig. Die 30- bis 39-Jährigen tragen massgeblich zur wirtschaftlichen Stärke der Stadt bei – und bilden auch das gesellschaftliche Fundament. Sie sind in dem Alter, in dem man Familien gründet und sich niederlässt – zum Beispiel in Zürich – trotz der hohen Mobilität, die ihren Alltag prägt und auch, obschon viele von ihnen noch in kinderlosen Haushalten oder in Wohngemeinschaften leben. Zugleich stellen sie die städtische Gesellschaft vor eine grosse Herausforderung: Sie fühlen sich öfter als die anderen Altersgruppen «überhaupt nicht gut» durch Stadt- und Gemeinderat vertreten. Fehlende politische Rechte als Ausländerinnen und Ausländer werden angeführt und auch, dass allgemein «zu wenig» für die Integration getan werde, obschon das konkrete städtische Engagement für die Integration als ausreichend erachtet wird.

Menschen vor dem Gerold-Areal in Zürich bei Abendstimmung.
Gerold-Areal Stadt Zürich, Quelle: Beat Bühler&Christian Dietrich

Auch auf dem Wohnungsmarkt kämpfen sie mit Hindernissen:  In der Bevölkerungsbefragung der Stadtentwicklung, die seit 1998 regelmässig durchgeführt wird, zeigt die Altersgruppe der 30- bis 39-Jährigen die tiefste Zufriedenheit mit der aktuellen Wohnung. Die Mehrheit wünscht sich zwar, dass in der wachsenden Stadt Zürich mehr Wohnraum geschaffen werde, erlebt die eigene Wohnumgebung jedoch überdurchschnittlich häufig als zu dicht oder sehr dicht bebaut. 43 Prozent nennen «Wohnungsprobleme» als eines der drei grössten Probleme in der Stadt. Das ist deutlich mehr als der Schnitt der Gesamtbevölkerung (29 Prozent).

All diese Faktoren zeichnen ein Bild, das die Stadt Zürich aufhorchen lassen muss. Was benötigt diese Altersgruppe, die so wichtig ist für die Lebendigkeit der Stadt, damit sie sich in Zürich wohlfühlt, damit viele von ihnen auch nach 40 in Zürich bleiben? Was kann die Stadt tun, damit sich die 30- bis 39-Jährigen hier zu Hause fühlen und Zürich zu ihrer (Wahl)Heimat machen? Was wünschen sich die mobilen, kosmopoliten Gutverdiener/innen von Zürich? Und was kann die Stadt von ihnen auch einfordern – was können sie Zürich zurückgeben, das die Stadt weiterbringt, die ein virulentes Interesse an ihrer Integration hat?

«Jede Stadtregierung wünscht sich, in ihrer Amtszeit einen lebendigen Mix von Dichte und Vielfalt schaffen zu können», sagt der kanadische Autor Doug Saunders, der sich in seinen Büchern den sozialen Veränderungen in den Städten durch die Migration widmet und eben mit «Maximum Canada» ein neues Werk zum Thema veröffentlicht hat. Dazu braucht es seiner Meinung nach nicht nur flexible Planungsinstrumente, um bauliche Dichte zu erreichen, sondern auch Mittel und Wege, um die «Stimmen der zukünftigen und potentiellen Bewohner/innen einzubeziehen, nicht nur diejenigen derer, die schon da sind» – gerade weil die «Neuen» immer zahlreicher werden. Denjenigen eine Stimme zu geben, die im existierenden politischen System keine haben, ist eine grosse Aufgabe. Die Stadt Zürich wird sie angehen müssen, um die Vielfalt ihrer Gesellschaft aufrecht zu erhalten und die «Neuen» aufzunehmen. Zu verstehen, wie die grösste und diverseste Altersgruppe der Stadt lebt, denkt und sich ausdrückt, ist ein erster Schritt dazu. «ZRH 3039» ein erster Ansatz.

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