Der Kalender von Gabriela sieht noch eher leer aus. «Wir haben heute Morgen eine Lücke, aber es ist gar nicht gesagt, dass die leer bleibt. Es füllt sich recht schnell. Man weiss nie, was noch alles kommt», sagt mir Gabriela. Auf dem Plan stehen Stand jetzt nur zwei Fälle: Der kaputte Gips eines Jugendlichen muss ersetzt werden und eine Sprunggelenksverletzung einer stationären Patientin wird nach der Operation stillgelegt. Und prompt erfüllt sich Gabrielas Prophezeiung. Ein Arzt kommt ins Gipszimmer und berichtet, dass er soeben einen neuen Patienten angemeldet hat. Die Hand muss eingegipst werden, da der Patient nach einer Operation die Hand nicht mehr zu stark bewegen soll. Die Fäden sind gezogen und der Arzt will zum Schutz der Wunde ein Pflaster aufkleben. Aber Gabriela interveniert: «Bitte kein Pflaster unter einem geschlossenen Gips, man weiss nie, wie die Haut reagiert.»
Dass Gabriela heute so viel übers Gipsen weiss, kommt nicht von irgendwo her. Sie hat in ihrem Werdegang viele Hürden überwinden müssen und dabei viel gelernt, erzählt sie mir. Dass sie überhaupt in der Pflege gelandet ist, ist nur ihrer Mutter zu verdanken. «Eigentlich wollte ich etwas mit Tieren machen, zum Beispiel Tierärztin. Meine Mutter war aber der Ansicht, dass es besser ist, Menschen zu pflegen, und so habe ich mich für eine Ausbildung als Krankenschwester entschieden.» Die Ausbildung hat sie direkt im Triemli absolviert. Im letzten Ausbildungsjahr hat sie ein zweiwöchiges Praktikum im Notfall gemacht und dabei festgestellt, dass dies genau das Richtige für sie ist. Aus diesem Grund hat sie nach dem erfolgreichen Abschluss gleich die Notfallausbildung angehängt, wobei sie erste Berührungspunkte mit dem Gipsen gesammelt hat.
Patient*in folgt auf Patient*in
Der kurz zuvor angemeldete Patient tritt ein. Er war früher bereits einmal hier und scherzt: «Jetzt hätte ich gerne einen pinken Gips.» Leider hat Gabriela diese Farbe nicht im Angebot, sodass der Gips blau wird. Während sie mit routinierten Griffen den Gips anlegt, ermahnt sie den Patienten, dass er danach nicht mehr Auto fahren kann. «Es kann rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, falls man dann in eine Kontrolle kommt oder in einen Unfall verwickelt ist.» Kaum ist sie mit diesem Gips fertig, folgt bereits der nächste Patient. Vor der Operation muss der kaputte Gips ersetzt werden. Die Mutter des jugendlichen Patienten schaut fasziniert zu, wie Gabriela in gleichmässigen und durchdachten Zügen den Gips um den Arm windet, und stellt dabei gelegentlich ein paar Fragen.
Bei Gabriela werden heute aber nicht nur Arme oder Hände von ambulanten Patient*innen einbandagiert, sondern auch ein Bein einer stationären Patientin. Die Patientin wurde mit einem Rollstuhl gebracht und wird nun auf den Stryker im Gipszimmer verlegt. Das Bein wird hochgelagert. Während Gabriela die Bandagen und Materialien bereitlegt, instruiert sie den Zivildienstleistenden, wie er das Bein stützen soll. Die Griffe sind dermassen routiniert, dass ich kaum mit dem Fotografieren hinterherkomme, auch wenn Gabriela meint, sie gipse im Schneckentempo. Hin und wieder erinnert sie die Patientin, dass sie sich entspannen soll, und schaut, dass das Gewicht des Fusses beim Zivildienstleistenden in der Hand liegt.
Die einzige Frau im Berufsverband
Zwei Jahre nach Ende ihrer Notfallausbildung war sie an einem anderen Ort tätig. In diesem Spital hatte sie ebenfalls die Leitung eines Gipszimmers inne. Dort konnte sie sich jedoch nicht entfalten und als dann die Anfrage von ihrem «Heimatspital» kam, ob sie zukünftig die fachliche Leitung des Gipszimmers im Notfall übernehmen wolle, hat sie zugesagt. Im Triemli hatte sie ihren alten Lehrmeister in den letzten Jahren vor der Pension tatkräftig unterstützt und dieser hatte sie dazu ermuntert, bei der Gründung eines Berufsverbandes der Gipser*innen mitzumachen.
Bei der Gründung der schweizerischen Vereinigung des medizinischen Gipspflegepersonals war sie die einzige Frau: «Gipser*in war früher ein Männerberuf. Man hat den Frauen nicht zugetraut, dass sie diesen anstrengenden Job ausüben können.» Umso erstaunlicher ist es, dass sie einerseits die fachliche Leitung eines grossen Gipszimmers innehatte und anderseits gleichzeitig die stellvertretende Präsidentin der Vereinigung war. «Der Präsident, ein enger Freund von mir, und ich wollten zeigen, dass auch eine Frau in diesem Beruf Erfolg haben kann», erklärt mir Gabriela. «Zehn Jahre leiteten wir zusammen die Vereinigung. Danach war ich drei Jahre lang selbst Präsidentin, bevor ich das Amt und dessen Aufgaben der jüngeren Generation überliess.» In der Zwischenzeit sind einige Frauen der Vereinigung beigetreten. Vielleicht auch dank Gabrielas Wirken.

Was haben Gipsen und Yoga gemeinsam? Die Kobrastellung.
Mittlerweile hat Gabriela immer wieder neue Patient*innen betreut, mit Kolleg*innen über Fälle diskutiert, weitere Fälle abgerechnet oder mit anderen Abteilungen telefoniert. Zeitweise ist das circa 20 Quadratmeter grosse Zimmer sehr voll. Während ein Patient wartet, dass der Gips härtet, behandelt sie bereits den nächsten Patienten und diskutiert gleichzeitig mit dem Arzt über den weiteren Behandlungsverlauf des wartenden Patienten. Dabei verliert sie nicht den Überblick und beantwortet sowohl dem Patienten, den sie gerade eingipst, als auch mir etliche Fragen.
Mittlerweile ist ein neuer Patient eingetreten. Der Patient hat seine Sehne verletzt und damit diese bei der Heilung entlastet wird, kriegt er eine Spezialstellung und keine Funktionsstellung, die man normalerweise gipst. «Hier gipse ich die sogenannte Kobrastellung», erklärt Gabriela, während sie dem Patienten einen Strumpf als Hautschutz über den verletzten Arm zieht. Danach klebt sie beim Handgelenk, dort wo der Knochen direkt unter der Haut liegt, noch ein bisschen Polsterung auf. «Aber nicht zu viel, damit der Gips nicht rutscht», teilt mir Gabriela mit. «Man streift sich auch nicht drei Socken über, bevor man in den Schuh schlüpft.» Je mehr Polster man hat, desto eher rutscht man und desto anfälliger wird man für Druckstellen.
Danach hüllt Gabriela den Arm mit schwarzen Gipsbandagen ein. «Hier braucht es noch eine Longuette», erzählt mir Gabriela. Als ich nachfrage, was eine Longuette ist, erklärt sie, dass dies eine härtere Materialschicht ist, die das weichere schwarze Material zusätzlich unterstützen soll. «Der Patient darf seine Hand und seine Finger nicht zu stark bewegen. Das schwarze Material ist alleine viel zu biegsam.» Währenddessen legt sie die Verstärkung auf den Unterarm und die Handfläche. Für die Kobrastellung zieht sie die Hand des Patienten nach hinten. Augenblicklich verstehe ich, warum diese Stellung die Kobrastellung genannt wird. Die Hand sieht aus wie eine Kobra, vor allem, nachdem Gabriela die weisse Longuette nochmals mit schwarzem Gipsbandagen umwickelt hat.
Mittlerweile braut man sich das Süppchen gemeinsam
Gabriela teilt ihr Wissen gern, das merkt man. Aufmerksam schaue ich zu und stelle meine vielen Fragen. Jeder Gips ist besonders, abgestimmt auf die*den Patient*in und auf ihre*seine Bedürfnisse. Während der vorherige Patient eine Spezialstellung erhalten hat, kriegt der nächste Patient eine Funktionsstellung. Dabei achtet Gabriela, dass die Finger frei bleiben und der Zeigefinger beim Schliessen locker auf den Daumen zu liegen kommt. Die Funktion des Haltens wird bei diesem Gips somit erhalten. «Früher wurde der Austausch von Wissen nicht gefördert», meint Gabriela. Jeder hat sein eigenes Gipszimmer betrieben und jeder ist beim Gipsen anders vorgegangen. Das hat sich nun geändert. «Während meiner Zeit in der Vereinigung haben wir mehrere Fortbildungskurse aufgebaut, die inzwischen von Ärzt*innen-Vereinigungen anerkannt sind», erklärt mir Gabriela stolz. Auch vier internationale Kongresse hat Gabriela zusammen mit Delegationen aus Frankreich und Deutschland organisiert. Mittlerweile braut nicht mehr jeder sein Süppchen allein.
Auch von besonderen Erlebnissen in ihrem Berufsalltag erzählt sie. Ein Kind hatte eine höllische Angst vor dem Gipsen und liess sich kaum beruhigen. Bis Gabriela erfuhr, dass das Kind Pferde liebt. Sie zeigte dann auf dem Computer ein Bild ihres schwarzen Pferdes Devito. Das beruhigte das Kind sofort und Gabriela konnte in Ruhe gipsen. Kurze Zeit später sahen die kleine Patientin und ihre Mutter bei einem Kiosk einen Schlüsselanhänger mit einem schwarzen Plüschpferd und kauften ihn für Gabriela. Die Mutter betonte, dass ihr Kind darauf bestanden hatte, diesen Anhänger zu kaufen.
Gabriela lächelt bei dieser Erinnerung. «Mir gefällt das Gipsen sehr», sagt mir Gabriela, «Viele Patient*innen sind sehr dankbar, auch wenn es nicht lustig ist, einen Gips tragen zu müssen.» Gleichzeitig braucht es viel Wissen über die Anatomie des Körpers und über das Material, um den Gips möglichst optimal für die Verletzung der*des Patient*in anzupassen. Ihren Kolleg*innen möchte sie deswegen die Neugier und den Wissensdurst auf den Weg geben: «Seid neugierig, lernt und habt Freude daran.» Wenn ich heute eines gelernt habe, dann das: Gipsen braucht Wissen aber auch viel Fingerspitzengefühl, um die bestmögliche Patient*innen-Versorgung zu gewährleisten.
