Vom 2. bis 22. September 2024 wird die in Zürich arbeitende Künstlerin Olivia Wiederkehr neue Perspektiven auf das Thema Erinnerungskultur eröffnen. Keine Erfolgsgeschichten werden erzählt und keine Skulptur wird errichtet; stattdessen lässt die Künstlerin die Stadt Zürich über ein flüchtiges Element sprechen: über Duft. Düfte können Gefühle hervorrufen und uns an Vergangenes erinnern. In ihrer Kunstinstallation «Schmerzh» überträgt Wiederkehr dieses individuelle Erinnerungsvermögen auf das kollektive Gedächtnis der Stadt Zürich. An den Orten Bullingerplatz, Idaplatz, Lindenplatz, Louis-Favre-Platz, Röschibachplatz und Alter Bahnhof Letten, die mit Ereignissen der jüngeren Vergangenheit in Verbindung stehen, lädt die Künstlerin ein, den Duft unserer Geschichte zu riechen, der teilweise auch schmerzvolle Erinnerungen birgt.
Für die Konzeption ihres KiöR-Projekts hat sich Wiederkehr intensiv mit der Erinnerungskultur sowie mit den bestehenden Denkmälern der Stadt Zürich auseinandergesetzt. Ihr Interesse hat sich bald von den bestehenden Denkmälern zum wirtschaftlichen und sozialen Raum verlagert, in dem diese eingebettet sind: «Mich reizt die Frage, wie sich diese Orte entwickelt haben, wie wir sie heute wahrnehmen und wie Gesellschaft und Denkmal zusammen funktionieren, insbesondere in Bezug auf die Geschichte und welche Bedeutung diese heute in unserer Stadt einnimmt. Ich denke, dass die Denkmäler im Gegensatz zu den Plätzen momentan nicht mehr wahrgenommen werden. Der Stadtraum wird immer enger und die Monumente stehen meist an signifikanten Stellen. Diese werden zum Verweilen, nicht aber als Orte der Repräsentation geschätzt. Wichtig war mir auch, Aspekte eines Denkmals in Eigenverantwortung zu erforschen. Diese Handlungsfreiheit entspricht meiner Arbeitsweise und ist in unserem demokratischen System möglich.»
Bei der Bewahrung von Denkmälern, erinnerungskulturellen Objekten und ganz allgemein von Erinnerungskultur würden gemäss Wiederkehr auch Normen konserviert, mit denen wir uns heute nicht mehr gänzlich identifizieren könnten. Dies sei für eine Gesellschaft hinderlich, da Demokratie dynamisch bleiben müsse. Die Stärke der Erinnerungskultur soll «in der Wertschätzung für Geschehenes – Gutes wie Schlechtes – liegen. Sie soll uns helfen, Mut zu erlangen und nicht zu Altem zurückzukehren; mit den Erfahrungen der Vergangenheit Neues zu schaffen. Vielleicht sollten wir nicht mehr von Erinnerungskultur, sondern von Erfahrungskultur sprechen».
Vielfach transportieren Denkmäler ein Erfolgsnarrativ. Mit ihrem Kunstprojekt rückt die Künstlerin aber den Schmerz, einen bisher kaum beachteten Aspekt, in den Vordergrund und macht ihn gar zum Titel ihrer Arbeit. «Schmerzh» befasst sich im Kontext von Zürich mit Emotionen, die jede*r schon einmal erfahren hat. Denn für Wiederkehr löst «das eigene Erleben tiefgreifende Transformationsprozesse in der Gesellschaft aus. Schmerz hat dabei eine bedeutende Rolle: Überhaupt, er macht das Leben erfahrbar. Sich diesem Schmerz auszusetzen braucht Mut. Mut, dieses Gefühl nicht zu unterdrücken, es auszusprechen, sich zu positionieren. Und dazu braucht es Worte, eine Sprache, um dem gesellschaftlich immer häufiger unterdrückten Schmerz eine Stimme zu geben.»
Gerüche und Gefühle
Die Künstlerin hat ihre Wurzeln im Tanzbereich und der Szenografie. Orte und deren Räume bilden für sie Möglichkeiten der Inszenierung, der Interaktion und des gemeinsamen Bespielens. Neben Performances, installativen und szenischen Elementen setzt Wiederkehr hierbei immer wieder das Prinzip der «Einladung» als künstlerisches Mittel ein. Für das KiöR-Projekt hat sie mit der Werbe- und Kreativagentur Live Lab und dem Parfumeur Andreas Wilhelm zusammengearbeitet. «Diese Kooperation entstand aus dem Wunsch, eine unmittelbare Sprache zu entwickeln, die mit dem Tabu des Schmerzes bricht. Ich wollte mir das Wissen von Profis der gezielten Übermittlung von Botschaften einholen: Werbung als effiziente und Duft als intuitive Form der Ansprache. Das Projekt setzt bei der Kopplung von Gerüchen und Gefühlen an, die im selben Gehirnzentrum verarbeitet und als Erinnerung in unserem Bewusstsein gespeichert werden. Es war ein Experiment, in dem wir im Austausch zu Lösungen gefunden haben, die in selbstständiger Arbeit nicht möglich sind. In der darstellenden Kunst ist es schon während des Studiums notwendig, Allianzen zu bilden: Einerseits bei der organisatorischen Umsetzung und andererseits bei der konzeptuellen Arbeit brauchst du Partner*innen. In der bildenden Kunst sind die Verhältnisse mehrheitlich von Konkurrenz geprägt und du bist auf dich gestellt. Für gelingende Transformation sind wir aber auf ein Miteinander angewiesen, wie auch im Verhandeln von Erinnerungskultur.»
An den von ihr ausgesuchten sechs Plätzen strömt im September ein Duft aus Schächten. Diese Plätze und Düfte verweisen auf lokale Geschichten der Gastarbeiter*innen, der offenen Drogenszene oder anderer wenig bekannter Ereignisse. Mit dem Duft vermag die Arbeit «Schmerzh» die Wahrnehmung intimer Gefühle wachzurufen, auch ohne Wissen über die Orte und deren historische Geschehnisse. Es ist ein introspektives und individuelles Erleben, das kaum messbar ist. «Die künstlerische Agitation ist ein Experiment und es wird sich zeigen, wie die Öffentlichkeit darauf reagiert. Ich will Sinnesbilder erzeugen, die in allen Gesellschaftsschichten Zürichs einen Denkprozess evozieren und den Wert des Miteinanders und seiner Diversität als Potenzial erkennen lassen. Unsere Geschichte und die Erinnerung daran ist nicht nur für Historiker*innen wichtig, sondern es handelt sich um ein kostbares Gut, das uns alle betrifft. Davon leitet sich ab, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.»
Die Künstlerin ist überzeugt, dass Erinnerung wichtig ist für unser Zusammenleben. Wie diese aber aussieht, ist eine Frage des Verhandelns, wie auch die Bildung des öffentlichen Raums in unserer Demokratie: «Hannah Arendt zum Beispiel sieht im öffentlichen Raum einerseits das gemeinsame Gut von Orten, die wir alle täglich nutzen, wie die Strassen, Plätze und Gebäude. Andererseits definiere sich darin auch die Art und Weise, wie wir miteinander leben. So darf Erinnerung kein blosses Anprangern sein, sondern muss zur kritischen Reflexion und zum Beschreiten neuer Wege beitragen. Eine zukünftige Denkmalkultur in Zürich braucht also demokratische Verhandlungsprozesse, die sowohl die urbanen Räume als auch die soziale Öffentlichkeit ins Blickfeld nimmt. Dafür sind Rituale dienlich, da sie anregen, über Erinnerung zu sprechen. Zum Beispiel könnte Zürich einen Gentrifizierungsfeiertag ins Leben rufen. Bei diesem Anlass würden alle Personen, die Zürich in den letzten Jahrzehnten geprägt haben, diese jedoch verlassen mussten, in ihre ehemalige Stadt zurückkehren. Teil des Programms wäre das Aufsuchen der ehemaligen Wohnungen, der Austausch von Geschichten und Erfahrungen. Ein neues Gefäss ist gefragt, damit in neuer Art und Weise über Erinnerung gesprochen werden kann.»
Text: Sara Izzo, Karoliina Elmer, KiöR
Foto: Olivia Wiederkehr
«Schmerzh»
Installationen von Olivia Wiederkehr
Bullingerplatz, Idaplatz, Lindenplatz, Louis-Favre-Platz, Röschibachplatz und Alter Bahnhof Letten
2.–22. September 2024