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Interview mit Julie Stempfel von der Dienstabteilung Verkehr

Julie Stempfel hat den Master of Science Raumentwicklung und Infrastruktursysteme und das MAS MTEC an der ETH Zürich abgeschlossen. Seit 2020 leitet sie die Abteilung Verkehrsprojekte bei der Dienstabteilung Verkehr. Die Abteilung befasst sich mit der Verkehrsplanung auf öffentlichem und privatem Grund, von der Bedürfnismeldung bis zum rechtskräftigem Projekt. Seit Mai 2021 ist sie stellvertretende Direktorin bei der Dienstabteilung Verkehr.

Julie Stempfel von der Dienstabteilung Verkehr

Julie Stempfel, Sie sind Leiterin Verkehrsprojekte bei der Dienstabteilung Verkehr und waren bei der Erarbeitung des Konzepts zur dritten Etappe der Strassenlärmsanierung beteiligt. Tempo 30 soll in der Stadt weitgehend eingeführt werden, auch an Hauptachsen. Warum?

In der eidgenössischen Lärmschutzverordnung (LSV) werden die Bestimmungen des Umweltschutzgesetzes im Bereich Lärm konkretisiert; insbesondere werden die Belastungsgrenzwerte (Alarmwerte, Immissionsgrenzwerte und Planungswerte) definiert. Für die Lärmsanierung sind die Immissionsgrenzwerte (IGW) relevant, da bei deren Überschreitung von einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens der Bevölkerung auszugehen ist. Werden die IGW überschritten, so sind – soweit verhältnismässig – Lärmschutzmassnahmen vorzusehen und umzusetzen (Art. 17 USG, 8 Abs. 2 LSV). Dabei sind Massnahmen an der Lärmquelle, wie Temporeduktionen und lärmarme Beläge (LAB) zu priorisieren.

Bisher wurde die Höchstgeschwindigkeit auf verkehrlich übergeordneten Strassen (mit Ausnahme von Quartierzentren) und auf Abschnitten, bei denen eine Herabsetzung auf Tempo 30 zu Folgekosten für den öffentlichen Verkehr (ÖV) geführt hätte, in der Regel bei Tempo 50 belassen. Mit der ersten und zweiten Etappe der Strassenlärmsanierung wurde auf insgesamt 120 Abschnitten aus Lärmschutzgründen Tempo 30 angeordnet. Allerdings profitieren davon nur 35 000 von stadtweit 140 000 Personen, die von übermässigem Strassenlärm betroffen sind. Zudem ergibt sich aus dem abschnittsweisen Vorgehen teilweise ein «Flickenteppich» von unterschiedlichen Geschwindigkeitsregimes, der für die Verkehrsteilnehmenden schlecht nachvollziehbar ist.

Mit der dritten Etappe der Strassenlärmsanierung beabsichtigt die Stadt Zürich deutlich mehr Personen von übermässigem Lärm zu entlasten und damit einen Beitrag für eine konsequente Umsetzung des Umweltschutzgesetzes, eine massgebliche Verbesserung im Bereich Lärmschutz und eine Stärkung der Standortattraktivität zu leisten.

Es gibt Tempo-30-Strecken und Tempo-30-Zonen – was ist genau der Unterschied?

Bei Tempo-30-Strecken gelten – mit Ausnahme der zulässigen Höchstgeschwindigkeit - die gleichen Regeln wie bei Tempo 50 oder 60. Es gibt also Fussgängerstreifen, Lichtsignalanlagen und der Rechtsvortritt ist nicht vorgegeben. Bei Tempo-30-Zonen kommt die Verordnung des UVEK über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen zur Anwendung: In Tempo-30-Zonen gilt grundsätzlich Rechtsvortritt und die Anordnung von Fussgängerstreifen ist unzulässig, ausser bei besonderen Vortrittsverhältnissen für Zufussgehende. Zudem muss beim Zoneneingang ein Eingangstor z. B. durch eine Fahrbahnverengung eingerichtet werden, was für den ÖV und für Blaulichtfahrzeuge erschwerend ist.

Was bedeutet Tempo 30 für die verschiedenen Verkehrsteilnehmenden?

Tempo 30 bringt mehr Sicherheit und weniger Lärm, aber für den motorisierten Individualverkehr (MIV) und den ÖV etwas längere Fahrzeiten. Ein leistungsfähiger, attraktiver öffentlicher Verkehr ist für die Stadt Zürich von grosser Wichtigkeit. Die ÖV-Attraktivität wird durch die Reisezeit, den Takt, die Zuverlässigkeit, die Pünktlichkeit und die Anschlusssicherheit beeinflusst.

Ohne Anpassung des Fahrplans muss mit vermehrt unpünktlichen Abfahrten und der Verschleppung von Verspätungen gerechnet werden. Aus diesem Grund müssen zusätzliche Fahrzeuge eingesetzt und Infrastrukturausbauten (z. B. an Endhaltestellen) erstellt werden. Zusätzlich müssen Anschlüsse und Linienüberlagerungen mit regelmässiger Taktfolge angepasst werden. Für die Finanzierung der durch die Einführung von Tempo 30 entstehenden ÖV-Mehrkosten ist eine Lösung zu finden. Angebotsreduktionen wollen wir unter allen Umständen vermeiden.

Der Tramverkehr ist von Temporeduktionen ausgenommen, sofern ein baulich abgetrenntes Trassee ein sogenannter unabhängiger Bahnkörper (UBK) besteht. Dort darf also das Tram schneller fahren als der MIV. UBK bedeuten somit eine Attraktivitätssteigerung der Trams gegenüber dem MIV. Allerdings dürfen UBK von Bussen nicht befahren werden.

Der Fuss- und Veloverkehr wird aufgrund von Tempo 30 attraktiver: Die Geschwindigkeitsdifferenzen zum MIV und ÖV werden geringer, die Aufenthaltsqualität im Strassenraum wird höher und die Verkehrssicherheit nimmt zu.

Tempo 30 hat man in der Berichterstattung aus naher Vergangenheit vor allem mit der Lärmsanierung in Zusammenhang gebracht. Hat Tempo 30 auch noch andere Vorteile?

Neben der Lärmreduktion erhöht die Einführung von Tempo 30 die Verkehrssicherheit und die Aufenthaltsqualität. Zudem trägt eine tiefere Geschwindigkeit zu einem besseren Verkehrsklima bei.

Geschwindigkeitsreduktionen führen als willkommener Nebeneffekt dazu, dass Unfallzahlen und insbesondere die Unfallschwere zurückgehen, weil Geschwindigkeitsreduktionen den Anhalteweg verkürzen und das Blickfeld der AutomobilistInnen vergrössern. Dadurch sinkt die Kollisionswahrscheinlichkeit. Davon profitieren in erster Linie die ungeschützten Verkehrsteilnehmenden zu Fuss und auf dem Velo: Die Überlebenswahrscheinlichkeit einer Person zu Fuss ist im Falle einer Kollision mit einem Fahrzeug bei 30 km/h um ein Vielfaches höher als bei 50 km/h.

Die Richtplanung sieht gerade auch an Hauptachsen verdichtetes Wohnen vor (Innenentwicklung). Aber auch andernorts sind die IGW heute massiv überschritten. Mit Tempo 30 in Kombination mit lärmarmen Belägen lässt sich die Lärmbelastung deutlich reduzieren. Diese Massnahmen schaffen die Grundvoraussetzung, um die geplanten Verdichtungen an stark befahrenen Strassen mindestens teilweise realisieren zu können, auch wenn die IGW vielerorts überschritten bleiben dürften. In der Richtplanung soll folgerichtig vorgesehen werden, dass offensive Massnahmen zur Reduktion der Lärmproblematik ergriffen werden, die Attraktivität der Siedlungsgebiete und Stadträume und insbesondere der Verdichtungsgebiete entlang der Stadtachsen sicherzustellen. Auf diese Weise kann ein wichtiger Beitrag zur Akzeptanz der vom Raumplanungsgesetz und den Richtplänen geforderten Innenentwicklung geleistet werden.

Was sind die Nachteile von Tempo 30?

Mit Tempo 30 wird die Fahrzeit mit dem MIV und ÖV je nach Strecke und Streckengestaltung teilweise leicht zunehmen. Um die heutige Attraktivität des ÖV auch in Zukunft zu gewährleisten, sind Fahrplananpassungen, Fahrzeugbeschaffung, Personalrekrutierung, Anpassungen oder Ausbauten von Garagen-/Depotinfrastruktur und der allfälligen Infrastruktur an Endhaltestellen notwendig. Diese sind mit Mehrkosten verbunden. Ob die Stadt oder der Kanton die Finanzierung des Mehraufwands übernehmen muss, ist noch in Klärung. Ein Angebotsabbau ist in jedem Fall zu verhindern.

Sind wir nun mit dem ÖV langsamer unterwegs?

Jein; das kommt auf die Strecke an. Die ÖV-Bevorzugung (separate Busspuren, Optimierung von Lichtsignalanlagen, Fahrbahnhaltestellen, Vermeiden von Rechtsvortritt) spielt dabei eine wesentliche Rolle, sodass die Bus- und Tramlinie möglichst ohne weitere Verlustzeit aufgrund von Stausituationen fahren können. Der Tramverkehr ist zudem von Temporeduktionen ausgenommen, sofern ein baulich abgetrenntes Trassee resp. UBK besteht. Wir müssen alles daran setzen, dass unser ÖV nicht an Attraktivität einbüsst. Die Stadt Zürich verfügt bereits über eine hervorragende ÖV-Priorisierung, aber wir müssen schauen, ob wir nicht noch besser werden können. Die elektronische Busspur an der Hohlstrasse ist ein sehr gutes Beispiel, wie wir kürzlich mit einer innovativen Verkehrssteuerung ÖV-Verlustzeiten reduzieren konnten.

Und die Autofahrenden – gibt es für sie auch Argumente, die eine Temporeduktion in der Stadt Zürich nachvollziehbar machen?

Der Verkehr wird bei tieferem Tempo entspannter und flüssiger. Die Leistungsfähigkeit einer Strasse innerorts wird primär durch die Knoten bestimmt. Auf Innerortsstrassen kann je nach Fahrbahnquerschnitt die grösste Verkehrsmenge bei einer Geschwindigkeit im Bereich von 30-35 km/h verarbeitet werden. Die Leistungsfähigkeit; d. h. die Anzahl an Fahrzeugen die pro Stunde an einem lichtsignalgeregelten Knoten verarbeitet werden, ist durch die Geschwindigkeitsreduktion kaum tangiert, da die Geschwindigkeit an geregelten Knoten üblicherweise gering ist. Bei 30 km/h ist der Verkehr flüssig. Brems- und Beschleunigungsvorgänge nehmen ab. Das führt zu einem «entspannteren» Verkehr, das kommt letztlich auch den Autofahrenden zu gute. Aber ich weiss, das sehen nicht alle so.

Tempo 30 bedeutet, dass man überall die Strasse queren kann (meistens ohne Fussgängerstreifen) – wie gehen Kinder und Sehbehinderte damit um? Was plant die Stadt, dass deren Querung so sicher wie möglich gelingt und Sehbehinderte nicht plötzlich vor einer Schlange parkierter Autos landen?

Nur bei Tempo-30-Zonen ist das flächige Queren vorgesehen. Die Verordnung des UVEK über die Tempo-30-Zonen und die Begegnungszonen sieht allerdings vor, Fussgängerstreifen bei besonderen Vortrittsverhältnissen für Fussgänger anzuordnen, namentlich vor Schulhäusern und Heimen. Auf dem Schulweg in Tempo-30-Zonen helfen die Schulinstruktorinnen und Schulinstruktoren der Stadtpolizei den Schulkindern, selbstständig unterwegs zu sein und Strassen an übersichtlichen Stellen zu queren.

Bei Tempo-30-Strecken bleibt der Strassenraum unverändert, nur die Signalisation und Markierung werden angepasst, dort gibt es also weiterhin Fussgängerstreifen und Fussgängerübergänge mit Lichtsignalanlagen.

Warum wurden nicht alle Strassen zu Tempo 30?

Das Bundesrecht lässt dies nicht zu. Die Herabsetzung der Höchstgeschwindigkeit muss für die konkrete Situation einzeln geprüft werden. Grundsätzlich gilt auf den Hauptachsen in die Stadt; resp. aus der Stadt Zürich weiterhin Tempo 50. Je dichter die Besiedlung und die Lärmbelastung werden, folgt direkt Tempo 30 oder ein Abschnitt mit Tempo-30-nachts. Auf mehreren Strecken, die für den Trambetrieb besonders wichtig sind, wird ein unabhängiger Bahnkörper geprüft, der ermöglichen würde, dass bei einer Einführung von Tempo 30 oder Tempo-30-nachts das Tram weiterhin schneller fahren dürfte.

Die Verhältnismässigkeit von Tempo 30 muss für jeden einzelnen Strassenabschnitt gemäss Art. 32 Abs. 3 SVG geprüft werden. Eine Massnahme gilt als verhältnismässig, wenn sie notwendig, geeignet und zumutbar ist:

-        Die Notwendigkeit ist gegeben, wenn die IGW überschritten sind.

-        Die Massnahme ist geeignet, wenn sie eine wahrnehmbare Lärmminderung bewirkt (mind. 1 dB(A)).

-        Die Massnahme gilt als zumutbar, wenn der Massnahme keine das Gesundheitsinteresse der Anwohnenden überwiegenden Interessen entgegenstehen.

Die Verhältnismässigkeitsprüfung von Massnahmen hat im Einzelfall, d. h. für jeden Strassenabschnitt, in einem Gutachten zu erfolgen. Dabei ist immer auch die Logik des Gesamtnetzes zu berücksichtigen.

Würden Elektroautos das Problem des Lärms nicht auch lösen können?

Die Elektromobilität sowie lärmarme Beläge sind von grosser Bedeutung in der Lärmsanierung. Die alleinige Einführung von Tempo 30 bringt eine Lärmreduktion gegenüber Tempo 50 von rund -3 dB(A), wobei die IGW heute vielerorts massiv (bis über 10 dB(A)) überschritten sind. Eine Kombination von Tempo 30 mit der Elektromobilität und lärmarmen Belägen ermöglicht eine deutliche Reduzierung (rund -7 dB(A)) der Lärmbelastung.

In Bezug auf diese Massnahmen und Massnahmen-Kombinationen ist es wichtig zu unterscheiden, dass die Stadt bezüglich Geschwindigkeit und Einbau von lärmarmen Belägen weitgehend selbständig handeln kann. Auf die Elektrifizierung hingegen kann sie höchstens indirekt Einfluss nehmen.

Wichtig zu wissen ist übrigens, dass die Elektrofahrzeuge nur bei tiefen Geschwindigkeiten leiser sind. Bei höheren Geschwindigkeiten dominiert das Rollgeräusch, welches unabhängig von der Antriebsart ist. Die Kombination von Tempo 30 und E-Autos ist somit wirksam, bei Tempo 50 nützt der Elektroantrieb bezüglich der Lärmbelastung so gut wie nichts, weil dann die Rollgeräusche dominieren.

Um Ersatzneubauten an verkehrsreichen Strassen realisieren zu können, muss es leiser werden, da sonst die IGW überschritten sind und keine Baubewilligung erteilt werden kann. Ab wann kann mit der Einführung von Tempo 30 gerechnet werden?

Das vorliegende Konzept zur dritten Etappe der Strassenlärmsanierung bestimmt, welches Geschwindigkeitsregime auf dem bestehenden Tempo-50-Strassennetz vorgesehen ist. Es versteht sich als verbindlicher Prüfauftrag an die Verwaltung und soll Planungssicherheit schaffen, wobei diese teilweise erst mit der Rechtskraft der Verkehrsanordnung tatsächlich eintritt. Strassenbauprojekten werden nun aufgrund des Geschwindigkeitsplans der dritten Etappe der Strassenlärmsanierung geplant. Zudem lassen sich auf dieser Grundlage die zahlreichen hängigen Rechtsmittelverfahren erledigen.

Die Konkretisierung und Umsetzung der neuen Temporegimes erfolgt etappenweise. Hierzu wird unter der Federführung des Tiefbauamts ein Umsetzungskonzept erarbeitet. Für jeden Streckenabschnitt muss in einer Einzelfallbetrachtung ein Verkehrsgutachten erstellt werden. Daraus können auch Abweichungen zu geplanten Temporegime-Vorhaben resultieren.

Die Umsetzung der neuen Temporegimes wird mindestens bis 2030 dauern. Der Stadtrat setzt eine geeignete Projektorganisation ein und wird im Rahmen der Mobilitätsstrategie «Stadtverkehr 2025» und der Lärmschutzstrategie über den Umsetzungsfortschritt Bericht erstatten.

Was meint der Kanton zum Vorhaben der Stadt Zürich?

Die Stadt Zürich ist gemäss der kantonalen Signalisationsverordnung zuständig für den Erlass der Verkehrsanordnungen. Die Zustimmung der Kantonspolizei ist dann nötig, wenn der Verkehr auf Durchgangsstrassen ausserhalb des Stadtgebietes beeinflusst werden könnte.
Letztlich sind aber alle Strasseneigentümer vom Bundesrecht zur Strassenlärmsanierung verpflichtet.

Anmerkung der Redaktion
Mehr Infos wie Lärm und Schall gemessen werden.
Das Interview wurde schriftlich geführt.

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