Zur Geschichte
Die Institution im Wandel der Zeit
Autor: Prof. Dr. med. Stephan Lautenschlager
Die ehemalige Städtische Poliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten, das heutige Dermatologische Ambulatorium des Stadtspitals Triemli mit Sitz im Kreis 4 (Aussersihl), blickt als stadtzürcherische Institution auf ein über 100-jähriges Bestehen und auf wegweisende Pionierarbeit zurück.
Erste Spezialpoliklinik in Zürich
Geschlechtskrankheiten waren anfangs 20. Jahrhundert in der Schweiz und insbesondere in Zürich sehr weit verbreitet. Es gab damals auf dem gesamten Kantonsgebiet keine Spezialpoliklinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten. Da man die epidemiologische Problematik der venerischen Erkrankungen in der ärmeren Bevölkerung der Stadtkreise 3, 4 und 5 als am vordringlichsten beurteilte und zudem bei dieser Bevölkerungsschicht eine gewisse Hemmschwelle gegenüber dem Kantonsspital im Kreis 6 am Zürichberg bestand, wuchs der Wunsch, eine spezialisierte Institution am Ort der Bedürfnisse zu errichten. Prof. Max Tièche, der eine florierende Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten an der Bahnhofstrasse führte, gelangte 1913 mit der Idee an den Stadtrat, eine Spezialpoliklinik aufzubauen, nachdem sein Anliegen von der Medizinischen Klinik des Kantonsspitals und der Universitätspoliklinik abgelehnt worden war. Der Stadtrat erkannte die epidemiologischen Zusammenhänge und fasste den Beschluss, Max Tièche die Räume der Medizinischen Poliklinik an der Hohlstrasse 82 für dermato-venerologische Sprechstunden und Patientendemonstrationen für Studierende zur Verfügung zu stellen. Bis Ende 1913 wurden 262 Erkrankte behandelt und insgesamt 930 Konsultationen unentgeltlich durchgeführt. Es handelte sich nach der Poliklinik in Bern um die zweite Institution dieser Art in der Schweiz.
Hauptsorge Geschlechtskrankheiten
Max Tièche hat als Gründer der Poliklinik die Richtung für die
Entwicklung der Institution klar vorgegeben: Sie sollte unter anderem
für ärmere Patientenschichten der Stadtkreise 3, 4 und 5 ein offenes
Haus sein und notfalls Patientinnen und Patienten auch unentgeltlich
behandeln. Die Hauptsorge galt der Eindämmung der
Geschlechtskrankheiten.
An zweiter Stelle folgten die übrigen
infektiösen Hautkrankheiten, wobei besonders die Pocken und Varizellen
das Interesse von Tièche weckten. Am Anfang des 20. Jahrhunderts kam es
in der Schweiz zu kleineren Epidemien einer leichteren Form der Pocken,
welche als Variolois bezeichnet wurde.
Da diese von Varizellen nicht zu unterscheiden war, suchte Tièche nach weiteren diagnostischen Tests, welche er später in Selbstversuchen demonstrieren konnte.
Aus heutiger Sicht, mit der Gefahr von Bioterrorismus im Blickfeld, sind Tièches Arbeiten zu den Pocken wieder besonders interessant und von hoher Aktualität.
Renommierte Institution
Tièche – aus dem Berner Jura stammend
– erlangte bereits durch seine Dissertation zur Erstbeschreibung und
Charakterisierung der blauen Naevi internationales Ansehen. In wenigen
Jahren hatte er die Poliklinik zu einer sozialen Institution aufgebaut.
Die ausgedehnten Abendsprechstunden waren bei der Bevölkerung besonders
beliebt und werden heute noch traditionellerweise am Freitag
durchgeführt.
Seine medizinischen Demonstrationen für die Studenten und Ärzte
erfuhren zunehmend eine grössere Wertschätzung, was mitunter zu einer
wachsenden Konkurrenzsituation zur drei Jahre später entstandenen
Hautklinik am Kantonsspital führte. Infolge des steigenden Andrangs von
Patientinnen und Patienten wurde die Poliklinik bald zu klein, weshalb
sich Tièche um geräumigeren Ersatz umsehen musste, den er im alten
Pulverhaus an der Hohlstrasse 119 fand. Diese Räumlichkeiten wurden
notdürftig zur Poliklinik umgebaut und als Übergangslösung im Januar
1923 bezogen. Damals wurden mit 9'432 Konsultationen 1'533 Patientinnen
und Patienten behandelt. Die Raumverhältnisse und Einrichtungen waren
aber bedenklich und riefen den Unmut der Bevölkerung hervor. Auch im
Gemeinderat wurde Kritik geübt. Erst 1934 konnte ein Kredit über
451'700 Franken genehmigt werden, um neue Räumlichkeiten an der Herman
Greulich-Strasse 70 aufzubauen. Nur zwei Jahre nach Bezug der noch
heute gültigen Adresse verstarb Tièche im 60. Altersjahr an den Folgen
einer akuten Pankreatitis.
Anlaufstelle für Hautveränderungen
In
Walter Burckhardt, damals 33-jährig, fand Tièche einen würdigen
Nachfolger. Er war von den beiden ersten Lehrstuhlinhabern für
Dermatologie in Zürich, Bruno Bloch und Guido Miescher, beruflich
geformt worden. Neben seinem Interesse für die Geschlechtskrankheiten
galt seine besondere Aufmerksamkeit der Gewerbedermatologie. Seine
zahlreichen Publikationen zum allergisch bedingten Ekzem, insbesondere
dem Zementekzem, hatten zur Folge, dass die Poliklinik zu einer
renommierten Anlaufstelle auch für berufsbedingte Hautveränderungen
wurde, was sich nicht zuletzt in den Patienten und Patientinnen
spiegelte, die längst nicht mehr nur aus den Stadtkreisen 3, 4 und 5
stammten. Zahlreiche bekannte Mediziner doktorierten unter seiner
Leitung, wovon stellvertretend die legendäre Dissertation von Urs P.
Hämmerli, dem späteren Chefarzt der Medizinischen Klinik am
Triemlispital, erwähnt sei. Hämmerli beschrieb erstmals die Entstehung
und Umstände der Zerkariendermatitis im Zürichsee.
Die Patientenzahlen stiegen weiter. So wurden etwa 1945 in 36'500 Konsultationen 5'439 Patientinnen und Patienten behandelt.
Neue Segmente, neue Struktur
Nach der Pensionierung von Burckhardt wählte der Stadtrat Kaspar Schwarz als Nachfolger. Er führte während seiner 17-jährigen Tätigkeit mit den Schwerpunkten dermatologische Strahlentherapie und Lichtdermatosen neue Patientinnen und Patienten in die Poliklinik. 1988 übernahm Alfred Eichmann die Leitung. Er hatte unter U. W. Schnyder in der Dermatologischen Klinik des Universitätsspitals Zürich zum Thema der Geschlechtskrankheiten habilitiert. Neben der Venerologie pflegte Eichmann vermehrt die neueren Subspezialitäten der Dermatologie – Dermatochirurgie, Stomatologie und Nagelkrankheiten – und baute diese Themengebiete zu Referenzadressen aus. Der Tradition des Hauses verpflichtet, wurde den Studentenkursen am Freitagnachmittag grosse Bedeutung geschenkt. In seine Chefarztzeit fällt 1994 der administrative Anschluss an das Stadtspital Triemli, womit sich die Struktur der Patientinnen und Patienten, die zunehmend interdisziplinär betreut wurden, erneut veränderte.
Rund 40'000 Konsultationen im Jahr
Die Patientenzahlen haben sich in den letzten Jahren im Bereich von 40'000 Konsultationen jährlich eingependelt. Insbesondere konnte sich das Institut für Dermatologie und Venerologie als Anlaufstelle für Zuweisungen von Kolleginnen und Kollegen diverser Fachrichtungen etablieren. Diese meist komplexen Fragestellungen betreffen mittlerweile knapp einen Viertel aller Patientinnen und Patienten. Daneben kommt weiterhin der sozialen Funktion der Klinik eine grosse Bedeutung zu. Auch heute gibt es Patientinnen und Patienten, die durch sämtliche sozialen Maschen fallen und anderswo keinen Unterschlupf mehr finden.
Nicht zuletzt als Folge der Organisationsstruktur mit einer offenen, sofort zugänglichen Sprechstunde ist der Anteil an Patientinnen und Patienten mit akuten Hautveränderungen (z.B. Hautinfektionen verursacht durch Bakterien, Viren oder Pilze) überproportional. Daneben ist leider der Trend der zunehmenden, sonnenbedingten Hauttumoren insbesondere bei der älteren Bevölkerung ungebrochen. Diese unterschiedlichen Hauttumoren können je nach Typ und Lokalisation chirurgisch, mittels Röntgenstrahlen, kryochirurgisch, photodynamisch oder mit topischen Medikamenten angegangen werden. Eine Zunahme an Patientinnen und Patienten erfahren wir aktuell auch bei den allergischen Erkrankungen, in der pädiatrischen Dermatologie und erneut bei den Geschlechtskrankheiten.
Mehr als 90 Jahre nach der Gründung gewinnt der ursprüngliche Zweck der Klinik wieder vermehrt an Bedeutung und dies weit über die Kantonsgrenzen hinaus.