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Das Atelier Hermann Haller

In aufwendiger Kleinarbeit entstand in den letzten Jahren ein Inventar der Werke von Hermann Haller (1880–1950), die sich in seinem Atelier in Zürich-Seefeld befinden. Dabei eröffneten sich auch überraschende Einblicke ins internationale Beziehungsnetz des Künstlers. Das Inventar stellt Grundlagen für eine neue, unbefangene Sicht auf diesen bedeutenden Schweizer Plastiker bereit.

Galerie des Ateliers Haller
Blick in die Galerie des Ateliers.

Von Caroline Kessler

In jahrelanger, aufwändiger Arbeit hat die Kunstsammlung der Stadt Zürich das Atelier Hermann Haller, das 1982 als Schenkung der Erben an die Stadt überging, für eine neue Auseinandersetzung mit dem «Begründer der neuzeitlichen Plastik in der Schweiz» [1] fit gemacht. Im Zentrum stand die Inventarisierung der dort verwahrten rund tausend Werke: hauptsächlich Plastiken (in Gips, Englisch Zement oder Bronze), aber auch Gemälde und diverse Arbeiten von mit Haller befreundeten KünstlerInnen. Dazu kamen Sanierungen am Gebäude und die Restaurierung zahlreicher Kunstwerke. Hallers Nachlass befand sich bis vor kurzem in einem desolaten Zustand. Die Feuchtigkeit im Haus und unsachgemässer Umgang hatten den fragilen Objekten zugesetzt.

Das nach Übernahme des Ateliers vom damaligen Bauamt II in Auftrag gegebene Inventar stellte sich als so rudimentär und chaotisch heraus, dass es nur bedingt zu gebrauchen war. Dazu kam, dass sich ein grosser Teil der noch von Hallers Witwe Hedwig Haller-Braus angebrachten Klebetiketten im Laufe der Jahre von den Plastiken gelöst hatte.

Wissenschaftliche Aufarbeitung

Kunstwissenschaftlich vertretbar zu inventarisieren, hiess, sämtliche Werke mit einer Inventarnummer zu kennzeichnen, auszumessen, zu fotografieren, in der richtigen Technik zu erfassen und wenn möglich zu datieren, was bei Haller, der endlos variierte, oft Wunsch bleiben musste. Bei bedeutenderen Werken galt es, zu bibliografieren und die Werk- und Ausstellungsgeschichte zu recherchieren. Die Identifikation der einzelnen Figuren, von denen oft verschiedene Güsse und diverse Variationen existieren, gestaltete sich umso schwieriger, als das Meiste – namentlich die Skizzen in den Dachkammern – pittoresk unübersichtlich an- und aufeinandergehäuft war. Die durch den wechselnden Ausstellungsbetrieb noch zusätzlich komplizierte Inventarisierung (im ungeheizten Atelier kann nur in dieser Zeit gearbeitet werden) gestaltete sich für die Fachstelle Kunstsammlung wesentlich zeitintensiver als ursprünglich angenommen.

Inventarisieren im Atelier Haller
Mit Stirnlampe und Werkzeug: Inventarisieren ist auch Handwerk.

Blick von der Galerie
Blick von der Galerie ins lichtdurchflutete Atelier (Foto: Lukas Zimmermann).

Der Künstler unter Künstlern

Es war aber nicht nur Knochenarbeit, sondern immer wieder äusserst spannend. So konnte man anhand der Modelle das enorme Beziehungsnetz Hallers aufdecken, an dem seine drei Ehefrauen – Gerda von Wätjen, Felicitas Trillhaase (genannt Chichio) und Hedwig Braus, alle drei selbst Künstlerinnen und deutscher Herkunft – wesentlichen Anteil hatten. Ein gewinnender Charakter, hatte sich Hermann Haller, der nach einem begonnenen Architekturstudium und einer Ausbildung als Maler 1905 in Rom autodidaktisch zur Plastik fand, vor dem ersten Weltkrieg in den Kunstszenen in Berlin und Düsseldorf schnell etabliert. In Paris gehörte er zum Kreis um das Café du Dôme, das auch die deutschen Top-Kunsthändler Paul Cassirer und Alfred Flechtheim frequentierten. Aus diesem Milieu gingen etwa die Porträts der Malerin Marie Laurencin, der Schauspielerin Tilla Durieux oder der Primaballerina Carina Ari hervor. Neben seinem engeren Freundeskreis, zu dem die Maler Karl Hofer, Ernst Morgenthaler und Karl Walser sowie der Bildhauer Ernesto de Fiori zählten, verkehrte Haller mit so unterschiedlichen Individuen wie dem Musiker Othmar Schoeck, dem Architekten William Dunkel, dem Diplomaten und IKRK-Präsidenten Max Huber und dem Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli. In seinem Atelier, in dem die Tanzszene (Clotilde Sacharoff und Hedy Schoop) eine grosse Rolle spielte, begegnete man auch Stars, die er nur aus Film und Presse kannte, wie dem Boxer Jack Johnson und den Schauspielern Rodolfo Valentino und Rio Jim.

Künstler und Modell im Atelier
Der Künstler und ein Modell im Atelier.

Haller im Atelier
Haller arbeitete ...

Haller im Atelier in Zürich-Seefeld
... in Zürich-Seefeld inmitten seiner Werke (Fotos: SIK).

Fremdkörper im Villenquartier

Die Inventarisierung des Haller-Ateliers konnte im Sommer 2014 abgeschlossen werden. Damit hat die Fachstelle Kunstsammlung einem lange vernachlässigten, kostbaren kulturellen Erbe zu seinem Recht verholfen.

Ohne das hohe Ansehen, das Hermann Haller bei den Zürcher Behörden genoss, wäre sein Atelier am See nie entstanden. Der gebürtige Berner, der sich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Zürich niedergelassen hatte, galt in den zwanziger Jahren als bedeutendster Plastiker der Schweiz. Als sich abzeichnete, dass sein Atelier am Zeltweg abgerissen würde, bot ihm die Stadt an bester Lage am rechten Seeufer ein Grundstück an, «damit der international anerkannte Künstler in Zürich tätig bleibe». [2]

Da ihm die Parzelle im Baurecht überlassen wurde, das alle fünf Jahre erneuert werden musste, entschied sich Haller für eine schlichte, funktionale Holzkonstruktion. Der Entwurf stammt von ihm selbst, unterstützt wurde er dabei vom Stadtbaumeister Hermann Herter, einem Vertreter des «Neuen Bauens».

Atelier von Hermann Haller
Durch das grosse Tor gegen Süden hin ...

Blick ins Atelier von Hermann Haller
... strömt zusätzlich Licht ins Atelier (Foto: Lukas Zimmermann).

Nach vergeblichen Einsprachen aus der Nachbarschaft, die das Bildhaueratelier als Störfaktor in ihrem Villenquartier betrachtete, konnte das Atelier 1932 errichtet werden. Im selben Jahr bekam Haller von der Stadt den Auftrag für das Hans Waldmann-Denkmal, das 1937 eingeweiht wurde, womit er zu einer Art «Staatskünstler» avancierte.

Spannungsreiche Nachbarschaft

Pavillon Le Corbusier und Atelier Haller
Nah beieinander: Pavillon Le Corbusier und Atelier Haller.

Im seinem letzten Lebensjahrzehnt wurde es ruhiger um den Plastiker, der bis zu seinem Tod im Jahr 1950 tätig blieb. Die Retrospektive im Kunsthaus Zürich von 1951 war die letzte grosse Hommage an Hermann Haller. Einige Publizität wurde seinem Werk zuteil, als seine Witwe, Hedwig Haller-Braus (1900–1989), das Atelier 1954 öffentlich zugänglich machte, wenigstens in den Sommermonaten.

In den sechziger Jahren wäre es um das Atelier Hermann Haller beinahe geschehen gewesen. Der Grund: Die Konkurrenz, die ihm in Form des Pavillons Le Corbusier auf der Blatterwiese erwuchs, verkörpert in der Person von Heidi Weber, der Initiantin und Corbusier-Vertrauten, die darauf drängte, dass Hallers Atelier abgebrochen würde. Das hatte der von Emil Landolt präsidierte Stadtrat eine Zeitlang auch vor, gleichzeitig sollte auch die nahe Villa Egli weichen. Nun formierte sich aber Widerstand. Bereits im Januar 1961 baten namhafte Künstler, Kunstvermittler, Sammler und andere Haller-Anhänger, darunter die Bildhauer Otto Charles Bänninger und Hermann Hubacher, der Architekt William Dunkel, Franz Meyer, damals Leiter der Kunsthalle Bern, und der «du»-Gründer Arnold Kübler, also beileibe nicht nur Gestrige, die Behörden in einem Brief eindringlich, das Atelier an seinem angestammten Ort zu belassen. Sie fanden Gehör, allerdings erst nach Jahren.

Unmittelbar vor der Eröffnung des Pavillons Le Corbusier im Sommer 1967 liess Heidi Weber dort drei Tafeln aufstellen, mit denen sie gegen das Fortbestehen des Haller-Ateliers wetterte. Auf einer stand schon das Wesentliche: «Das Haller-Atelier wird neben dem Corbusier-Haus zur Baracke. Man hat Corbusier versprochen, es zu versetzen. Wir werden dem Haller-Atelier Beine machen.» [3] In Rage geraten war Frau Weber, weil sie erfahren hatte, dass der Stadtrat eine bereits ausgesprochene Kündigung an Frau Haller-Braus zurückgezogen hatte.

Rettung in höchster Not

Skulptur «Grosses Böhnli»
«Grosses Böhnli», 1932/33, Englisch Zement, Inv. Nr. 35907.

Diese eigenartige Protestaktion veranlasste den Gemeinderat Hans Müller am 5. Juli 1967 zu einer Interpellation, die schliesslich Klärung brachte. Die Antwort darauf zeigt auch, dass die von einem Hin und Her bestimmte Geschichte dem Stadtrat peinlich war. Offenbar hatte der Widerstand der Haller-Anhänger den Ausschlag gegeben, heisst es da doch: «Der Stadtrat vertritt die Auffassung, das alte Haller-Atelier sollte erhalten bleiben, solange die Freunde Hermann Hallers auf diesen Standort Wert legen.» Gleichzeitig wird «festgehalten, dass weder der frühere noch der jetzige Stadtpräsident [4] irgendwelche Versprechen auf Beseitigung des Haller-Ateliers abgegeben haben.» [5] Von da an scheint ausser Heidi Weber niemand mehr ernsthaft auf einen Abbruch dieses einzigartigen Ateliers gedrängt zu haben.

Von einer neuen Wertschätzung zeugt das Kapitel, das ihm Roman Hollenstein im 1983 erschienenen Sammelband «Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart» widmete. Nach einer eingehenden Würdigung dieses Baus schliesst Hollenstein, notabene ein junger Architekturkritiker und kein alter Haller-Freund: «Heute ist das Haller-Atelier gleichermassen Haller-Museum und -Gedenkstätte wie architektonisches Dokument». [6]

Wie wir gesehen haben, kam der Entscheid des Stadtrates, das Haller-Atelier stehen zu lassen, vor allem auf Druck von aussen und weniger aus eigener Überzeugung zustande. Dementsprechend hielt sich die Freude über die 1982 vollzogene Schenkung in Grenzen. Zu Zeiten der Jugendunruhen und dem Kampf um die Rote Fabrik zog Hallers harmonisch-heiteres Menschenbild, das auch aus feministischer Perspektive fragwürdig wurde, begreiflicherweise nur wenige an. Jedenfalls war das Haller-Atelier von Anfang an ein Stiefkind unter den städtischen Kulturinstituten. Das zeigte sich nicht nur in der Vernachlässigung konservatorischer Belange, sondern auch in den missglückten Revitalisierungsversuchen, für die man inkompetente «Kuratoren» zuzog.

Es brauchte eine entspanntere Sicht auf Hallers Werk, viel Energie und einige Anläufe, bis das Haller-Atelier nach der Jahrtausendwende aus seinem Dornröschenschlaf erwachte. Für einen frischeren Wind sorgte schon Priska Held, die es sieben Jahre lang betreute. Vor zwei Jahren initiierte das junge Kuratorenteam Lorenz Hubacher und Véronique Wüllrich die Ausstellungsreihe «Zu Gast im Atelier Hermann Haller» und brachte damit vielversprechende Bewegung in das historische Gebäude.

Anmerkungen

[1] Künstler-Lexikon der Schweiz. XX. Jahrhundert. Frauenfeld 1963–1967, Bd. I, S. 412.

[2] Roman Hollenstein, Die Atelierhäuser von Arnold Böcklin und Hermann Haller in Zürich und die Häuser von Ernst Ludwig Kirchner in Davos, in: Künstlerhäuser von der Renaissance bis zur Gegenwart, hrsg. von Eduard Hüttinger und dem Kunsthistorischen Seminar der Universität Bern in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft Zürich, Zürich: Waser Verlag, 1983, S. 229.

[3] Auszug aus dem Protokoll des Stadtrates von Zürich zum 18. Oktober 1967.

[4] 1966 hatte Sigmund Widmer Emil Landolt im Stadtpräsidium abgelöst.

[5] Wie Anm. 3.

[6] Wie Anm. 2, S. 232.

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