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Feldforschung in Schwamendingen

In voller Montur – orangefarbener Hose, passender Jacke mit der Aufschrift «Tiefbauamt Stadt Zürich», Sicherheitsschuhen und orangem Helm – begeben wir uns mit dem Tram Nr. 7 nach Schwamendingen, wo wir von der Fachstelle Kunst im öffentlichen Raum KiöR mit der Künstlerin Ruth Erdt beim ehemaligen AMAG-Gebäude abgemacht haben. Seit 2011 hält sie im Auftrag der KiöR die Veränderungen des Quartiers fotografisch fest.

Zürich hat in den 1950er-Jahren ein enormes Wachstum erlebt, die Suche nach günstigem Wohnraum – der nicht zuletzt entstanden war durch die neu gegründeten und von der Stadt subventionierten Baugenossenschaften – führte viele Familien und Arbeiter*innen nach Schwamendingen. 1979 wurde jedoch durch den Ausbau der Überlandstrasse zu einer sechsspurigen Autobahn mit Anschluss an die A1 das Wohnquartier zweigeteilt – rund 120 000 Fahrzeuge rauschen seither täglich mit schnellem Tempo durchs Quartier. Naheliegend, dass damit die Lärm- und Luftbelastung oftmals die zulässigen Grenzwerte überstieg. Doch erst 2006 sprach sich die Bevölkerung der Stadt Zürich in einer Volksabstimmung für die finanzielle Unterstützung der Autobahnüberdeckung mit darauf liegender Parkanlage, dem Ueberlandpark, aus. Nach etlichen Plangenehmigungen starteten die Vorarbeiten schliesslich 2018.

Autobahn vor der Einhausung, 2016. Foto © Ruth Erdt.
Autobahn vor der Einhausung, 2016. Foto © Ruth Erdt.

Spätestens seither kennen wir die Gegend ziemlich gut. Damals veranstaltete die KiöR in den Quartieren Oerlikon, Schwamendingen und Seebach während dreier Monate die Ausstellung «Neuer Norden Zürich» mit rund 40 Kunstwerken, die sich nebst den spezifisch lokalgeschichtlichen Aspekten auch mit der Transformation und Entwicklung des städtischen Lebensraums im Norden Zürichs befassten. Bereits zuvor wurden für das Format «Lokaltermin Schwamendingen» von 2010 bis 2019 regelmässig Künstler*innen eingeladen, das Thema der Einhausung von Schwamendingen und deren Auswirkung auf das Quartier zu reflektieren. Denn das vom Bundesamt für Strassen (ASTRA) in Zusammenarbeit mit Kanton und Stadt Zürich realisierte Strassenprojekt wird nicht nur einen Einfluss auf die Umweltfaktoren Lärm und Abgase haben, sondern auch die Entwicklung der angrenzenden Wohngebiete massgebend bestimmen. Schon jetzt weichen sanierungsbedürftige Gebäude neuen Wohnbauten und zeigen, dass die Transformation Schwamendingens in vollem Gange ist.

Bau der Einhausung. Foto © Ruth Erdt.
Bau der Einhausung. Foto © Ruth Erdt.

Dies wird uns nochmals bewusst, als wir den Aufgang der unterirdischen Tramhaltestelle Schörlistrasse verlassen und uns zuerst orientieren müssen. Entlang des Herbstwegs gelangen wir zur Unterführung Saatlen. Plötzlich steht die Einhausung wie eine Mauer vor unserer Nase. Der Durchblick zur anderen Seite existiert nicht mehr. Wir fragen uns, ob die geplanten Verbindungen über der Einhausung und die bevorstehende Aufwertung der Unterführung tatsächlich ausreichen werden, um die beiden Quartierteile wieder zusammenzurücken.

Die Fotografin Ruth Erdt auf der Einhausung. Foto: Peter Baracchi.
Die Fotografin Ruth Erdt auf der Einhausung. Foto: Peter Baracchi.

Wir treffen Ruth Erdt bei der Rampe Ost des AMAG-Gebäudes. Sie hat die Erlaubnis eingeholt, dass wir das sich im Rückbau befindende Areal betreten dürfen. Über die Rampe gelangen wir auf das Dach, wo einzelne Schriftzüge, Zeichnungen, Gartenmöbel und Pflanzenkisten zurückgeblieben sind. Weit kann der Blick in die Umgebung schweifen: Oerlikon mit seinen neuen Hochhäusern, davor die noch eher niedrigen Gebäude von Schwamendingen, in der Ferne die grünen Hügel und Wälder, gleich vor uns die eingehauste Autobahn. Es ist merklich ruhiger. 2018, als hier noch der Verkehr vorbeirauschte, wäre eine Unterhaltung vor Ort kaum möglich gewesen. Wir beginnen also mit dem Interview …

Markantes Gebäude inspiriert wechselnde Nutzung

KiöR: Warum ist dir das AMAG-Gebäude aktuell so wichtig, dass du es fotografisch festhalten willst?

Ruth Erdt streift durch die AMAG. Foto: Peter Baracchi.
Ruth Erdt streift durch die AMAG. Foto: Peter Baracchi.

Ruth Erdt: Das Gebäude ist aus architektonischer Sicht und von der Lage her sehr interessant: Es gab Verkaufsflächen für Autos, Werkstätten für Karosserie und Reparatur sowie Spritzanlagen. Die Fahrzeuge konnten über die Rampe bis aufs Dach fahren. Für mich ist es ein ergiebiges und spannendes Sujet. Die AMAG ist ein Zeitzeugnis. Das vor Kurzem noch als «Werkerei» zwischengenutzte Fabrikgebäude soll in Wohnraum umgewandelt werden, da dies am meisten rentiert. Als die Automobilfirma ihren Hauptsitz nach Dübendorf verlegte, übernahm die Stadt Zürich das Gewerbehaus und bot Räume zu günstigen Preisen an. Dieser Ort bewährte sich sowohl für das Kleingewerbe wie auch für die Kultur als wichtige Nische. Persönlich kannte ich viele Künstler*innen, Architekt*innen und weitere Kulturschaffende, die ihre Ateliers hierher verlegten. Zudem gab es Off-Spaces und andere Ausstellungsräume, in denen Anlässe stattfanden. Die unterschiedlichen Nutzungen der Mieter*innen machten diese Lokalität zu einem Treffpunkt. Es gab auch die Kantine «Falschgeld», in der man zu Mittag essen konnte. Nun geht dieser Ort des Machens, der Kreativität und des Austauschs verloren. Das beschäftigt mich, denn ich verliere einen wichtigen Bezugsort. Die neu entstandenen Bekanntschaften haben sich zerstreut, ein paar sind nach Altstetten, andere nach Rümlang, die dritten weiss ich wohin gezogen.

Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.
Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.

Über die Rampe gehen wir ins darunterliegende Geschoss, dabei müssen wir auf die vorbeifahrenden Baufahrzeuge achtgeben. Von hier gelangen wir über die Fussgängerbrücke in die ehemalige Kantine «Falschgeld». Ein Teil der Küche und der Gerätschaften ist noch da, ansonsten ist der staubige Raum leergeräumt. Wir begeben uns ins Erdgeschoss zum Haupteingang. Während der Zwischennutzung gab es hier eine Bar, die vom ehemaligen Mieter betrieben wurde, einem Rennwagen-Fan. In der Galerie soll er die grösste Carrera-Rennbahn gehabt haben, erzählt die Künstlerin. Von hier aus erkennbar sind die nun verlassenen Atelierräume, deren Wände teilweise bemalt oder mit Graffitis versehen sind. Es stehen Mobiliar, Holz, Säcke und anderer Abfall für den Abtransport bereit.

KiöR: Seit über elf Jahren hältst du die Veränderungen in Schwamendingen fotografisch fest und begibst dich sozusagen auf Feldarbeit. Wie bereitest du dich darauf vor und wie erfährst du, an welchen Orten etwas geschieht? 

RE: Dass ich in Schwamendingen wohne, ist ein Vorteil. So erfahre ich vieles en passant. Zu Fuss oder mit dem Velo bewege ich mich durch das Quartier und kann schnell auf eine Situation reagieren. Natürlich müssen die Lichtverhältnisse stimmen, manchmal warte ich Tage auf den richtigen Moment. Hinzu kommen weitere Aspekte: Bei Baustellen muss ich abklären, wie ich mir Zugang verschaffe oder ob ich eine Bewilligung brauche. Noch mehr Vorbereitungszeit, Organisation und Koordination benötigen Porträtfotografien von Personen, die im Quartier leben oder arbeiten, wie zum Beispiel an Schulen, in der Badeanstalt sowie in der Quartierwache. Manchmal setze ich mich auf eine Bank am Schwamendingerplatz und nehme Passant*innen mit dem Tele auf. Dort kann ich nicht fragen. Diese Aufnahmen sind mir sehr wichtig, weil der Platz ein Treffpunkt ist, an dem verschiedene Leute zusammenkommen. Auch Quartierfeste wie die beliebte Chilbi sind spannende Orte. Ich versuche, die Situationen einzufangen, die für Schwamendingen relevant und wichtig sind.

KiöR: Du selbst sagst es, deine fotografische Langzeitstudie erfordert viel organisatorischen Einsatz. Wir stellen uns jedoch auch die Wahl der Sujets anspruchsvoll vor.

RE: Meine Thematik ist vielschichtig angelegt und ich muss viel beachten. Im Quartier finden grosse städtebauliche Veränderungen statt, die die Identität des Orts transformieren. Bei Neubauten versuche ich, eine Abfolge vom Abbruch bis zur Errichtung der neuen Wohnüberbauung zu fotografieren. Im Kreis Zwölf wurde in den letzten Jahren grossflächig abgerissen. Die genossenschaftlich verankerten Wohnsiedlungen aus den 1950er-Jahren sind veraltet. Durch die Einhausung wird das Quartier aufgewertet. Zahlreiche Genossenschaften nehmen dies zum Anlass, ihre Siedlungen und Reihenhäuser abzubrechen und komplett neu zu bauen. Der Prozess wird erst in etwa zehn Jahren beendet sein. Es wird dichter und höher gebaut, der für Schwamendingen charakteristische Grüngürtel zwischen den Häusern verringert. Bei einigen neuen Mehrfamilienhäusern wird versucht, diese Reduzierung durch in Grüntöne gehaltene Fassaden zu kompensieren. So gesehen betreibe ich auch Forschung und renne gegen die Zeit, um die rasant schwindende Identität der Gartenstadt fotografisch festzuhalten.
Wichtig sind mir auch die Menschen, die damit konfrontiert sind. Bei meiner Arbeit rede ich viel mit Bewohner*innen, die auf mich zukommen. Ich habe immer ein offenes Ohr. Weitere Sujets finde ich in Details: Ich mache zum Beispiel Porträts von Bäumen, die gefällt werden, oder von einem liebevoll rot-weiss bemalten Holzpilz in einem Garten. Ich entdecke immer etwas, wenn ich losziehe. Die Landwirtschaft am Stadtrand mit den wenigen verbliebenen Bauernhöfen und der angrenzende Wald als Naherholungsgebiet sind ebenfalls Themen der Langzeitstudie.

Mit Fotografie Wirklichkeiten schaffen und vermitteln

KiöR: Du warst an der Kunstgewerbeschule in der Grafikfachklasse. Dann hast du an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Fotografie studiert und anschliessend an der ZHdK einen Master in Fine Arts absolviert. Deine künstlerische Arbeit konzentriert sich auf das Medium der Fotografie. Nebst der digitalen Fotografie nimmst du auch ältere Verfahren auf und oft arrangierst du deine Bilder zu Installationen. Wie kam es zu diesem Interesse für die Fotografie?

RE: Mit der Fotografie habe ich in der Grafikklasse begonnen. Es war ein Fach der Ausbildung und meine Eltern kauften mir eine Kamera. Die war damals teuer und es war nicht selbstverständlich, als Teenager einen eigenen Fotoapparat zu besitzen. In der Kunstgewerbeschule konnten wir unsere Filme entwickeln und die Negative auf Prints vergrössern. Kurz vor dem Abschluss der Ausbildung wurde ich schwanger und war mit 24 Jahren Mutter zweier Kleinkinder. Künstlerische Fotoprojekte liessen sich mit meiner Situation als Mutter und Künstlerin besser vereinbaren. Dieses Medium wurde für mich immer wichtiger, sodass ich die Fotofachklasse, die damals sehr kunstorientiert war, absolvierte. Ein paar Jahre später schloss ich den ersten Master of Fine Arts in Zürich ab.

Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.
Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.

KiöR: Gibt es weitere Gründe, warum du dich der Fotografie widmest?

RE: Für mich besitzt die Fotografie eine universelle Sprache. Sie ist gut vermittelbar und für die meisten verständlich. Sie erlaubt einen emotionalen Zugang und kommuniziert mit den Betrachtenden auf unmittelbare Art. Dies und die Tatsache, dass damit rasch eine Realität abgebildet werden kann, interessieren mich. Vor vierzig Jahren habe ich das Medium für mich gewählt, um eine sogenannte Wirklichkeit darzustellen, die ich lebte, aber bisher nicht abgebildet vorgefunden hatte. Zum Beispiel meinen Alltag als Künstlerin mit Kindern. Es gab für mich dazu keine Identifikationsmomente in der Kunst. Ich fing an, mit autobiografischem Material zu arbeiten; aus einem feministischen Ansatz heraus und auch aus Zeit- und Geldmangel.
Auch heute noch ist mir wichtig, dass ich eine Authentizität in das Bild bringen kann, die sich beispielsweise den Mitteln der Werbefotografie entgegensetzt. Diese emotional-formale Sprache finde ich relevant und ich forsche noch immer an ihr.

KiöR: Du hast vorhin erwähnt, dass nicht nur Abbruchhäuser und andere architektonische Abbildungen in die Studie einfliessen, sondern du bewusst auch Porträts von Schwamendinger*innen machst. Was sind dabei die Herausforderungen?

RE: Fotos von Menschen sind integraler Bestandteil meiner Arbeit. Ich versuche, zu den Protagonist*innen eine Vertrauensbasis aufzubauen. Gelingt mir dies nicht, bin ich mit dem Bildmaterial meist unzufrieden. Oft pflege ich den Kontakt zu den Personen, die ich porträtiert habe, weiter und begegne ihnen wieder. Dies macht definitiv einen Teil meiner künstlerischen Arbeit aus.
Die Stadt hätte auch eine Dokumentarfotografin oder einen Dokumentarfotografen beauftragen können, eine aussenstehende, beobachtende Position. Als Schwamendinger Künstlerin kann ich aber andere Elemente einbringen und habe Zugriff zu Sphären, die eine Person von aussen nicht hat. Im Gegensatz zu einer rein dokumentarischen Arbeit eröffnen sich emotionale Zugänge. Ich kann Bilder meiner Tochter hinzufügen, die in Schwamendingen aufgewachsen ist und nun in Berlin lebt, oder meiner Mitbewohner und ihren Freundinnen. Ich wohne mit drei jungen Menschen zusammen, zwei davon sind Architekten und Freunde meines Sohnes, der schon lange ausgezogen ist. Wir haben ein offenes Haus und viele Gäste.
Die Langzeitstudie erhält so einen intimen Blick in mein Umfeld. Ich komme nicht von aussen, sondern bin Teil davon. Dieser Aspekt prägt die Studie auch formal. Die fotografische Arbeit wächst so zu einem sozialen Körper. 

Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.
Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.

Wir spazieren zum Migros Restaurant, während Ruth Erdt uns vom Fotoshooting an einem Schüler*innenball im Schulhaus Leutschenbach erzählt. Sie wollte Aufnahmen machen für die Langzeitstudie, stand aber plötzlich im Auftrag der Jugendlichen da, die sich in ihrer Abendrobe inszenieren wollten (sie lacht). Mittlerweile ist unser Hunger gross. Wir sitzen an einem erhöhten Tisch am Fenster mit Sicht auf den Schwamendingerplatz. 

KiöR: Eigentlich gibt es in Schwamendingen auch andere Gaststätten. Wieso hast du vorgeschlagen, hier zu essen?

RE: Wir haben ein dichtes Programm und mit der Selbstbedienung geht es schnell. Zudem ist die Lage zentral, mitten im Geschehen. Mir gefällt, dass die Gäste hier durchmischt sind. Es kommen Leute vom Bau, Handwerker*innen, Arbeiter*innen sowie Senior*innen und Eltern mit ihren Kindern. Ich finde es einen guten Ort, weil er so unprätentiös ist.

Gedächtnis des öffentlichen Raums gestalten

KiöR: Erzähl uns doch, wie es zur Langzeitstudie gekommen ist.

RE: Es war 2011 oder sogar 2010, als ich den Erstkontakt mit Thomas Müllenbach hatte, der damals in der Arbeitsgruppe KiöR war. Danach wurde ich von Christoph Doswald und Bettina Burkhardt, dem damaligen Vorsitzenden und der damaligen Leiterin Fachstelle KiöR, eingeladen, einen Beitrag für das von ihnen geplante Format in Schwamendingen vorzubereiten. Ich fand das Projekt spannend, auch weil so wieder ein kulturell-künstlerisches Angebot im Ort verankert würde. Damals fotografierte ich bereits in Schwamendingen und schlug der KiöR vor, nebst den wechselnden Künstler*innen meine fotografische Arbeit längerfristig zu verfolgen, im Sinne einer Studie.

KiöR: Bei Kunstwerken im öffentlichen Raum denkt man an Skulpturen oder Plastiken. Eine fotografische Arbeit assoziiert man weniger damit. Wie stehst du zu dieser Behauptung?

RE: Im Gegenteil, ich finde die Verbindung von Fotografie und öffentlichem Raum überaus passend. Das Medium der Fotografie ist im urbanen Raum häufig anzutreffen und besitzt eine starke ästhetische und psychologische Wirkung, z. B. als Plakat. In der Kunst kann man dieses Potenzial nutzen. Aber auch Fotografien, die nicht auf Wandflächen oder Tafeln im Aussenraum anzutreffen sind, können einen wichtigen Beitrag für die Kunst im öffentlichen Raum leisten. Dies hat auch Dorothea Strauss erkannt, die mich für ein Projekt der «Mobiliar» über das Aargauer Dorf Freienwil eingeladen hatte. Während des Vorhabens wohnte ich acht Monate dort, fotografierte die Menschen und integrierte mich im Dorfleben. Am Ende erschien eine Bildpublikation «Eine Chronik für Freienwil 2017», die an die Bewohner*innen verteilt wurde. Die Fotos waren zwar nicht im Aussenraum präsent, doch haben sie sich in die Öffentlichkeit Freienwils, in die Wohnungen usw. eingeschrieben – vermutlich über Generationen.

KiöR: Daraus kann man schliessen, dass die Langzeitstudie, auch wenn nicht draussen sichtbar, dennoch eine Arbeit ist, die im öffentlichen Raum stattfindet und hier ihren Ursprung hat. Du hast aber auch schon Auszüge davon im Aussenraum gezeigt.

RE: Ja, ich habe in Schwamendingen wiederholt verschiedene Interventionen im öffentlichen Raum mit den Fotos der Langzeitstudie umgesetzt, z. B. auf Ständern oder als Billboards an Hausfassaden. Die Bilder waren oft kritisch. Zwar habe ich unterschiedliche Sujets gewählt, aber auf Abbruchsituationen fokussiert. Dies war wichtig, da es mir die Möglichkeit gab, das Quartier und die direkt Betroffenen geradeaus damit zu konfrontieren und zu zeigen, dass man sie wahrnimmt. 

KiöR: Dein Bildarchiv muss eine beachtliche Grösse erreicht haben. Wie schaffst du es mit solchen Konvoluten zu arbeiten und dabei den Überblick zu behalten, was bereits fotografiert ist und was noch ergänzt werden muss?

RE: Unterdessen sind es etwa 45 000 Bilder. Das Datenhandling ist eine Herausforderung. Sich ein System für die Ablage, die Suche und weitere Arbeit mit dem Fotomaterial aufzubauen ist unabdingbar. Ich unterteile nach Jahr und Sujet wie Porträts, Abbruch, Einhausung. Je grösser das Archiv wird, desto aufwändiger werden die Arbeitsschritte. Eine Auswahl nach bestimmten Kriterien zusammenzustellen ist ein intensiver Prozess, der ein hohes Mass an Konzentration erfordert. Die Bilder lassen sich chronologisch wie auch formal gestalterisch kombinieren. Mir geht es beim Auswählen für Ausstellungen oder bei einer Publikation um den Aufbau eines Narrativs, auch einer Spannung. Das Arrangieren der Fotografien ist Gestaltung, Grafik und Architektur zugleich.

Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.
Ruth Erdt, Last days of AMAG, 2022. Foto © Ruth Erdt.

Nach dem Mittagessen zeigt uns Ruth Erdt den Dachstock ihres Wohnhauses, in dem sie zurzeit arbeitet. Einen Teil ihres Ateliers hat sie Anfang Jahr von der Roten Fabrik nach Genua verlegt, als die maximale Mietdauer von fünf Jahren erreicht war. Durch die Prämierung ihres künstlerischen Schaffens hat Erdt auch schon während Atelieraufenthalten in anderen Städten wie Berlin oder London gearbeitet.
Am Nachmittag besichtigen wir die Baustelle der Einhausung in Begleitung eines Verantwortlichen und in Schutzkleidung. Unsere orangefarbenen Helme aufgesetzt, erhalten wir Zutritt auf das Dach des Tunnels und tauchen danach in die Röhre ein. Schon bald wird das Bauwerk abgeschlossen sein. Man erklärt uns die Entrauchungseinheiten und andere Sicherheitsvorkehrungen. Auf der Baustelle ist es kalt und laut. Ruth Erdt ist vom Fotografieren absorbiert. Die letzten Fragen besprechen wir bei einem warmen Tee im Schwamendingerhuus. Den Gästen hier fällt sofort unsere Bekleidung mit dem Logo des Tiefbauamts auf. Eine Frau nutzt die Gelegenheit und fragt uns, wie es in Schwamendingen weitergehe. Welche Häuser noch abgerissen würden und ob das Mehrfamilienhaus, das sie bewohnt, auch betroffen sei. Während wir sprachlos sind, reagiert die Künstlerin souverän. Sie kennt die Ängste einiger Leute im Quartier und nimmt sie ernst. Auch sie weiss nicht, wie lange sie im Haus der Liegenschaften Stadt Zürich bleiben kann. Sie erklärt der Frau, was wir machen, erzählt von ihrer Arbeit als Künstlerin, stellt ihr Fragen und erkundet sich nach ihrem Namen und der Telefonnummer. Sie möchte sie gerne fotografieren.

KiöR: Du lebst seit 30 Jahren hier und verfolgst mit deiner Kunst die Transformation des Ortes. Was konntest du seither feststellen? 

RE: Die demografische Durchmischung hat sich gewandelt. Früher war Schwamendingen ein Arbeiter*innenquartier. Jetzt kommen neue, besser gestellte Bewohner*innen aus der Innenstadt, wo der Wohnraum knapp ist. 

KiöR: Hast du den Eindruck, dass diese Veränderungen direkt in Verbindung mit dem Bau der Einhausung stehen?

RE: Ja, das hängt auf alle Fälle mit Schwamendingens Aufwertung durch die teuerste Lärmschutzmassnahme Schweiz zusammen. Die Preise der sanierten Mietwohnungen steigen, es ziehen andere Menschen ein, was zu einer Rochade der Quartierbewohner*innen führt. Es gibt auch Vorteile. Mit dem Bau der Einhausung entsteht eine neue Begegnungsfläche für das Quartier, der Ueberlandpark. Ich bin sicher, dass sich dieser neue öffentliche Raum zu einem attraktiven Treffpunkt entwickelt, wo Begegnungen und Austausch stattfinden.

Ruth Erdt im Atelier: Das Archiv umfasst mittlerweile rund 45 000 Arbeiten. Foto: Peter Baracchi.
Ruth Erdt im Atelier: Das Archiv umfasst mittlerweile rund 45 000 Arbeiten. Foto: Peter Baracchi.

KiöR: Wieso glaubst du, dass die Veränderungen in Schwamendingen interessieren?

RE: Für mich kann Schwamendingen auch Berlin-Neukölln sein. Schwamendingen ist ein Exempel, eine Marke, über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt. Die Themen, über die wir hier sprechen, manifestieren sich auch in den Randbezirken anderer europäischer Grossstädte. Wo der Platz knapp wird, wo Städte verdichtet werden und wo neuer Wohnraum entsteht, greifen Gentrifizierungsprozesse. Mit meiner künstlerischen Arbeit will ich zeigen, dass Schwamendingen überall sein kann.

KiöR: Wir haben bereits vom riesigen Archiv an Fotografien gesprochen. Eine Auswahl soll, idealerweise bei Fertigstellung der Autobahneinhausung, als Publikation herausgegeben werden. Du arbeitest mit dem Kurator und Experten in zeitgenössischer Fotografie, Urs Stahel, zusammen, der das Fotomuseum Winterthur mitbegründet und lange geleitet hat. Kannst du mehr darüber erzählen?

RE: Eine solche Langzeitdokumentation, an der eine Künstler*in mehrere Jahre arbeitet, muss ein Ziel haben. Im besten Fall beinhaltet dies eine Publikation und eine Ausstellung. Urs Stahel ist anlässlich der Ausstellung «Neuer Norden Zürich» von KiöR eingeladen worden, ein öffentliches Gespräch in der Ziegelhütte, unter anderem zu meiner Arbeit, zu moderieren. Er fand das Projekt zu Schwamendingen auf Anhieb interessant. Stahel ist für mich ein Glücksfall, eine Koryphäe der Fotografie im Kunstkontext. Er weiss, wie mit grossen Archiven umzugehen ist, wie man die Bilder zueinander in Beziehung setzt, ästhetische und gestalterische Kombinationen erzeugt und wie man so mit ihnen unterschiedliche Geschichten erzählt. 

KiöR: Ist das Projekt mit der Publikation beendet? 

RE: Für mich wird das Projekt vorerst fertig sein. Ich brauche eine Pause und werde vermehrt im Ausland arbeiten. Und dann kommt es auf meine Wohnsituation an. Wenn ich in Schwamendingen bleiben kann, was ich sehr hoffe, nehme ich vielleicht wieder einen Teil auf. Wichtig ist mir aber, dass diese Art künstlerischer Forschung in anderen Bereichen Verwendung findet, z. B. von Stadtplaner*innen oder Urbanist*innen in ihren Studien und Vorhaben aufgenommen wird. Die Bilder vermitteln verschiedenste Aspekte, die den öffentlichen Raum und Prozesse von Städten reflektieren.

Auf dem Schwamendingerplatz verabschieden wir uns von Ruth Erdt und nehmen das Tram 7 zurück in die Innenstadt. 

Wer eine fotografische Arbeit von Ruth Erdt in nächster Zeit sehen möchte, hat im Rahmen der Ausstellung ACTS OF FRIENDSHIP – ACT 1, die bis 2. April 2023 im Migros Museum stattfindet, Gelegenheit dazu.

Texte und Gespräch: Karoliina Elmer (Projektleiterin KiöR) und Sara Izzo (Leiterin Fachstelle KiöR)

Fotografien: © Ruth Erdt und Peter Baracchi/Kunst im öffentlichen Raum (KiöR)/Stadt Zürich

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