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Exzellenz in der Pflege: Kinaesthetics

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Kinaesthetics ist die Lehre der Bewegungswahrnehmung – ein wichtiger Faktor in der personenzentrierten Pflege. Was man darunter versteht und warum Kinaesthetics viel mehr ist als rückenschonendes Arbeiten, erklärt die Kinaesthetics-Trainerin Neisa Plouda.

2. April 2024

Neisa Plouda, Kinaesthetics-Trainerin im Gesundheitszentrum Käferberg
«Der Mensch ist dafür gemacht, sich selbstwirksam zu erfahren – vom Moment, in dem er geboren wird, bis zu seinem Tod.»
Neisa Plouda, Kinaesthetics-Trainerin im Gesundheitszentrum für das Alter Käferberg

Neisa Plouda ist im Gesundheitszentrum für das Alter Käferberg als Kinaesthetics-Trainerin Stufe 3 tätig. Das ist die höchste Stufe und bedeutet, dass sie Aufbaukurse anbieten und Peer-Tutor*innen ausbilden kann. Bei den Gesundheitszentren arbeiten zudem neun Trainer*innen der Stufe 2, die Grundkurse anbieten können, sowie zahlreiche Spezialist*innen für angewandte Kinaesthetics, die Refresher-Kurse gestalten.

Die Definition des Berufsverbands Kinaesthetics Schweiz lautet: Kinaesthetics ist die Bezeichnung für die Erfahrungswissenschaft, die sich mit Bewegungskompetenz als einer der zentralen Grundlagen des menschlichen Lebens auseinandersetzt. Was das für die Pflege bedeutet, erläutert Neisa Plouda im Interview.

Neisa, wie würdest du Kinaesthetics beschreiben?
Kinaesthetics hat viel mit Physik zu tun – aber nicht nur. Es geht darum, wie wir das Gewicht in der Schwerkraft organisieren. Kinaesthetics bedeutet, Interaktionen so zu gestalten, dass sie für das Gegenüber passend sind. Das heisst, wir leiten in der Pflege durch Berührung und Bewegung so an, dass die Anstrengung der Tätigkeit angepasst ist. Wenn die Interaktion vom Pflegepersonal nicht passend gestaltet ist, bringen wir das Gewicht des Bewohners in die Muskulatur. Dadurch wird die Anstrengung für den Bewohner grösser – und die Pflegeperson empfindet die Tätigkeit als Strapaze. Kinaesthetics betrifft aber nicht nur die Anleitung durch Berührung und Bewegung, sondern auch unsere Art zu kommunizieren.

Kinaesthetics in der Kommunikation?
Absolut. Wenn ich eine Situation in einem Rapport so beschreibe, dass sie von meiner Kollegin, die übernimmt, als negativ und mühsam wahrgenommen wird, tritt sie ihren Dienst mit einer hohen Körperspannung an – denn Spannung erzeugt Spannung. Wenn ich die Situation im Rapport jedoch als Herausforderung beschreibe, zu der ich ihre Meinung schätze und ihr eine Fallbesprechung anbiete, löst das völlig andere Gefühle aus.

Kannst du uns ein Beispiel für Kinaesthetics aus dem Pflegealltag geben?
Gerne. Nehmen wir Frau M. Sie hat eine demenzielle Erkrankung und zeigt sehr viel Angst beim Wechsel von der Rückenlage in die Seitenlage. Sie kann sich kaum noch körperlich orientieren, das heisst, ihre räumliche und zeitliche Orientierung sind nicht mehr gegeben. Meine Absicht ist es nun, Frau M. in ihrer Bewegung so zu unterstützen, dass sie diese nachvollziehen kann. So lernt sie, sich in ihrem Körper wieder zurechtzufinden. Dadurch reduzieren sich ihre Angst und Anspannung.  

Wie machst du das konkret?
Ich gestalte die Umgebung so, dass sie Frau M. Sicherheit gibt. Wenn sie etwa Angst zeigt, beim Drehen in die Seitenlage auf den Boden zu fallen, achte ich darauf, dass ihre Aufmerksamkeit auf mich gerichtet ist und nicht auf die Bewegung. Diese einfach klingende Absicht unterteilt sich in eine Vielzahl kleiner Schritte, die ich im Bewegungsablauf beachte, damit Frau M. sich selbstwirksam erfahren kann und ihre Angst in den Hintergrund tritt.

Wie stellst du einen Draht zu den Bewohnenden her?
Indem ich sie in dem bestärke, was sie können und was sie gerade tun. Das beginnt mit dem Blickkontakt und der Begrüssung, einem Händedruck und persönlichen Worten. Ich nehme den Menschen in seiner jetzigen Situation als Ganzes wahr – und ernst. Wenn eine Bewohnerin zum Beispiel die Bettdecke festhält, unterstütze ich sie dabei. So wird ihre aktuelle Tätigkeit – egal mit welcher Absicht oder Motivation – von ihr als positiv erfahren. Sie erlebt sich als selbstwirksam. Das heisst, sie kann selbst etwas zu dem, was gemacht werden soll, beitragen.

Warum ist Selbstwirksamkeit so wichtig?
Der Mensch ist dafür gemacht, sich selbstwirksam zu erfahren – vom Moment, in dem er geboren wird, bis zu seinem Tod. Ein kleines Kind möchte selbst essen, auch wenn es dabei alles vollkleckert, es möchte allein in den Kindergarten gehen und selbst über sein Spielzeug entscheiden. Jeder Mensch ist anders und entwickelt im Lauf seines Lebens eigene Muster, Gewohnheiten, Ängste und Freuden. Und jeder Mensch ist ein in sich geschlossenes System.

Kannst du das genauer erklären?
Jeder Mensch kann sich nur selbst wahrnehmen und spüren – und sein eigenes Spannungsnetz regulieren. Wenn meine Körperspannung bei einer Interaktion steigt, sodass sie für die Tätigkeit, die ich ausführen will, nicht mehr passend ist, bewirke ich das Gleiche auch bei meinem Gegenüber. Angst, Schmerz, Unwohlsein: Das alles erhöht die Körperspannung. Dabei handelt es sich um einen Schutzmechanismus des Körpers. Alles, was weich und intim ist, wird zugemacht, um Verletzungen vorzubeugen. Auch verbale Verletzungen erzeugen beim Menschen eine höhere Körperspannung. Kinaesthetics-Trainer*innen werden darin geschult, sich selbst bei jeder Interaktion wahrzunehmen, um feinste Anpassungen in Bezug auf sich vornehmen zu können.

Wie lässt sich die Selbstwirksamkeit in der Pflege fördern?   
Indem ich Bewegungen für die Bewohnenden nachvollziehbar gestalte. Dazu gebe ich gerne ein Beispiel. Wenn ich einem Bewohner, der schon seit Jahren auf Hilfe angewiesen ist, das Bein im Bett immer aufstelle, mache ich das für ihn satt mit ihm. Er kann dann zwar das Bein angewinkelt halten, verlernt aber, wie er es aus eigenem Antrieb anwinkeln kann. Wenn ich den Bewegungsablauf hingegen so gestallte, dass er für ihn nachvollziehbar ist, kann er sich einbringen und Selbstwirksamkeit erfahren. Idealerweise gelingt es ihm so irgendwann, sein Bein wieder allein aufzustellen.  

Was lernen die Mitarbeitenden, die du schulst, von dir?  
Zwei wichtige Erkenntnisse sind: Wenn ich meine Anspannung und Anstrengung der Tätigkeit anpasse, die ich ausführe, reguliert sich auch die Anspannung und Anstrengung der Bewohnenden. Wenn ich achtsam bin mit mir selbst, werde ich auch achtsam in Bezug auf die Bewohnenden – und die pflegerischen Abläufe fallen mir leichter. Diese Erkenntnisse bereiten ihnen Freude. Und es macht sie stolz, wenn sie einen Bewohner, den sie bis anhin zu zweit gepflegt haben, neu allein pflegen können. Das führt dazu, dass sie Pflegesituationen nicht einfach als schwierig wahrnehmen, sondern als eine lösbare Herausforderung. Zudem lernen sie von mir, dass auch ich ständig am Forschen und Suchen bin.