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Exzellenz in der Pflege: Werteanamnese für eine Behandlungs- und Lebensplanung

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Während den meisten Menschen Testament, Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung ein Begriff sind, ist die Werteanamnese noch wenig bekannt. Wie sie abläuft und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können, erklärt die Pflegeexpertin Gertraud Haberkorn aus dem Gesundheitszentrum für das Alter Bachwiesen.

27. Februar 2024

Gemälde einer Bewohner*in mit dem Titel «Dem Glück und der Freude immer zuschwimmen»

Das Gemälde mit dem Titel «Dem Glück und der Freude immer zuschwimmen» entstand aus dem Herzenswunsch einer Bewohnerin, einmal in ihrem Leben ihre eigenen Bilder ausstellen zu können. 
 

Eine Patientenverfügung hält fest, wie jemand am Ende seines Lebens medizinisch behandelt werden möchte. Dies für den Fall, dass die Person selbst nicht mehr in der Lage ist, ihre Wünsche zu äussern. Doch die «herkömmliche» Patientenverfügung hat Schwächen: Da sie häufig ohne professionelle Beratung ausgefüllt wird, sind die Festlegungen für zukünftige medizinische Behandlungen oft nicht valide oder enthalten widersprüchliche Aussagen. Zudem ist das Dokument oft älteren Datums und nicht an die aktuelle Situation angepasst oder im Bedarfsfall unauffindbar.

Um diese Defizite zu beheben, wurde in den 90er-Jahren Advance Care Planning (ACP) entwickelt. ACP stammt aus den Vereinigten Staaten und war lange auch hier unter diesem Begriff bekannt. Inzwischen verwenden wir in der Schweiz den deutschen Begriff «Gesundheitliche Vorausplanung (GVP) nach ACP». In diesem Prozess geht es darum, die medizinischen Entscheidungen und Wünsche einer Person im Voraus zu planen und zu dokumentieren. Die GVP stärkt die Selbstbestimmung der Betroffenen in medizinischen Fragen – insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Urteilsunfähigkeit. Sie ergänzt die Patientenverfügung vor allem in drei wesentlichen Punkten und wird darum auch Patientenverfügung «plus» genannt:

  • Der Gesprächsprozess wird durch eine professionelle Beratung unterstützt.
  • Die Dokumentation ist verständlich, standardisiert und verfügbar.
  • An- und Zugehörige werden nach Möglichkeit einbezogen.

Im Rahmen einer vorausschauenden Behandlungsplanung können nicht alle möglichen Situationen antizipiert werden: Hier kommt die Werteanamnese – auch Gespräch zur Therapiezielfindung GVP genannt – ins Spiel. Die Pflegeexpertin Gertraud Haberkorn hat eine Weiterbildung als Beratungsperson für GVP gemacht und führt auch Werteanamnesen mit den Bewohnenden durch. Im Interview gewährt sie Einblicke.  

Gertraud, worum geht es bei der Werteanamnese genau?
Es geht darum zu erfahren, was die Einstellungen, Werte, Wünsche und Erwartungen bezüglich Leben, Sterben und Behandlung der betroffenen Person sind. Diese werden für den Fall der Urteilsunfähigkeit für Drittpersonen schriftlich festgehalten. Das Gespräch und die Dokumentation basieren auf fünf vorgegebenen Fragen.

  1. Wie gerne leben Sie? (Welche Bedeutung hat es für Sie, (noch lange) weiterzuleben?)
  2. Wenn Sie ans Sterben denken – was kommt Ihnen dann in den Sinn?
  3. Darf eine medizinische Behandlung dazu beitragen, Ihr Leben in einer Krise zu verlängern? Welche Be­lastungen und Risiken wären Sie bereit, dafür in Kauf zu nehmen?
  4. Gibt es Situationen, in denen Sie nicht mehr lebens­verlängernd behandelt werden wollen?
  5. Gibt es persönliche Über­zeugungen, die Ihnen in einer Krise helfen und wichtig sind? Haben Sie ein Lebensmotto?

Was ist der Nutzen einer Werteanamnese?
Die Auseinandersetzung mit den eigenen Werten löst bei den Betroffenen oft einen individuellen Klärungsprozess aus. Dieser unterstützt die persönlichen Entscheidungen zur gesundheitlichen Vorausplanung und damit die Selbstbestimmung. Die Werteanamnese ist eine Art «persönlicher Welt- oder Wertekompass». Dieser kann Angehörigen und Betreuenden in schwierigen medizinischen Entscheidungssituationen als Orientierungshilfe dienen.

Von wem geht die Initiative aus, wenn du eine Werteanamnese durchführst?
In der Regel erhalte ich einen Hinweis von unseren beiden Ärztinnen. Die Initiative kann aber auch von den Pflegenden ausgehen, die ja eine grosse Nähe zu den Bewohnenden haben und sehen, wenn sich eine Situation verändert. Dann frage ich an, ob eine Werteanamnese gewünscht wird, wir verpflichten jedoch niemanden.  

Wie ist das Vorgehen?
Bei neuen Bewohner*innen werden möglichst bereits bei Eintritt ein Behandlungskonzept und eine Ärztliche Notfallanordnung (ÄNO) festgelegt. Dies erfolgt im Gespräch mit der Bewohnerin oder dem Bewohner sowie den Angehörigen oder den vertretungsberechtigten Personen. Wenn sich dabei herausstellt, dass es Unklarheiten oder Unsicherheiten bezüglich einer Entscheidung gibt, wird eine Werteanamnese vorgeschlagen. Je nach Situation und kognitiven Möglichkeiten der betroffenen Person frage ich gleichzeitig auch die Angehörigen für die Durchführung der Werteanamnese an.

Was geschieht mit den gemachten Aussagen?
Ich schreibe die Aussagen in der Ich-Form nieder. Für die Validierung lese ich die Niederschrift der betroffenen Person und gegebenenfalls auch ihren Angehörigen vor. Sie sagen mir, ob das Geschriebene ihren Aussagen entspricht und nehmen bei Bedarf Anpassungen vor. Zudem leite ich aus dem Gesagten Empfehlungen für die Ärztliche Notfallordnung ab. Die Betroffenen erhalten jeweils das Original-Dokument der Werteanamnese, das zuvor für die elektronische Krankenakte eingescannt wurde. Manche Bewohnenden möchten eine Kopie des Dokuments für ihre Kinder. Das Dokument ist jedoch nicht in Stein gemeisselt. Es kann angepasst werden, wenn sich Veränderungen ergeben.

Was macht der Arztdienst mit den Empfehlungen?
Der Arztdienst prüft die hergeleiteten Empfehlungen. Wenn es Differenzen zur bereits festgehaltenen Ärztlichen Notfallordnung gibt, bespricht er diese mit der betroffenen Person, um Klarheit zu gewinnen. Die Werteanamnese kann so als Grundlage für die Behandlungsplanung dienen. Oft werden im Rahmen der Werteanamnese auch Aussagen gemacht, welche die Lebensplanung betreffen.

Wie meinst du das?
Vor allem auf die Frage «Wie gerne leben Sie?» kommen von den Befragten oft klare Aussagen zu Herzenswünschen oder zu Dingen, die sie gerne noch machen und erleben möchten. Das Wissen um diese Herzenswünsche bietet dem Betreuungsteam die Möglichkeit, deren Umsetzung und damit die Lebensqualität der Bewohner*innen zu unterstützen.

Wie reagieren die Bewohnenden auf das Angebot der Werteanamnese?
Sie sind meist sehr offen für das Angebot und zum Teil erstaunt, wie sich ihre Situation im Gespräch klärt. Es kommen manchmal Aussagen wie: Das Ergebnis hat mich jetzt selbst erstaunt. Von den einfachen Fragen auf die Bedeutungsebene zu kommen, ist jedoch nicht leicht und auch nicht immer möglich. Trotzdem sind die Aussagen ein wichtiger Orientierungspunkt für das Erleben, die Wünsche und die Werte der Befragten. Wenn ich die Aussagen niedergeschrieben habe und sie den Bewohner*innen in der Ich-Form vorlese, ist das ein ganz besonderer Moment. Sie fühlen sich gewürdigt und sind oft berührt von ihren eigenen Aussagen.

Wie sieht es bei Bewohnenden mit Demenz aus?
Auch Bewohnende mit leichter bis mittelschwerer Demenz können oft noch sehr klare und hilfreiche Aussagen zu den ersten beiden Fragen machen. Fragen, die Antizipieren verlangen, sind bei kognitiver Einschränkung meist schwieriger zu beantworten.  

Erzählst du uns von den Erkenntnissen aus einem solchen Gespräch?
Eine Bewohnerin mit mittelschwerer Demenz und ihr Ehemann wurden bezüglich einer Werteanamnese angefragt. Der Ehemann hatte erst Vorbehalte, willigte aber ein. Die Bewohnerin konnte im Gespräch erstaunlich klar sagen, warum sie gerne lebt. Ihr Ehemann hatte zum Ende des Gesprächs Tränen in den Augen, da die Antwort auf die Frage eine einzige Liebeserklärung an ihn war. Er war sehr dankbar für das Gespräch.

Was waren weitere Aussagen und Wünsche von Bewohnenden?
Zum Beispiel der Wunsch, keine Opiate zu erhalten. In dieser Situation folgte dann ein Klärungsgespräch unserer Ärztin mit dem Bewohner und es konnte eine klare Vereinbarung getroffen werden. Häufig werden, wie bereits erwähnt, persönliche Wünsche geäussert. Zum Beispiel die Hoffnung, das eigene Enkelkind noch zu sehen. Ein Fall ist mir besonders in Erinnerung geblieben: Ein chronisch kranker Mann bedauerte, dass er keinen Kontakt mehr zu seiner Tochter hatte. Dank des im Rahmen der Werteanamnese geäusserten Wunsches konnte diese Begegnung noch möglich gemacht werden.