Eidgenössische Wahlen 2015 - Zunehmendes politisches Interesse im frühen Erwachsenenalter
24. November 2015 - Christian Gschwendt
Die Analyse der eidgenössischen Wahlen 2015 zeigte, dass die Wahlbeteiligung mit zunehmendem Alter steigt. Dieser Anstieg hält bei den Frauen bis zum 70. und bei den Männern bis zum 80. Lebensjahr an (siehe Grafik 1). Worauf ist das zurückzuführen? Beteiligen sich Ältere häufiger, weil es sich um eine andere Generation handelt, die anders sozialisiert und politisiert wurde? Oder wählen ältere Wahlberechtigte häufiger, weil sie älter sind? Um diese Fragen zu beantworten, wird im vorliegenden Webartikel untersucht, wie sich in der Stadt Zürich die Beteiligung gegenüber den eidgenössischen Wahlen vor acht Jahren entwickelt hat, als die Wahlberechtigten acht Jahre jünger waren.
Alters- oder Generationeneffekte?
Für die ungleich hohe Wahlbeteiligung je nach Alter gibt es zwei mögliche Erklärungen:
- Die Wahlbeteiligung verändert sich mit zunehmendem Alter (Alterseffekte).
- Die Wahlbeteiligung ist von der Zugehörigkeit zu einer Generation abhängig (Generationeneffekte).
Von einem Generationeneffekt wird gesprochen, wenn beispielsweise der Beteiligungsunterschied zwischen 20- und 40-Jährigen darauf zurückzuführen ist, dass die Nutzung der politischen Rechte in der Erziehung der aktuell 40-Jährigen eine höhere Bedeutung hatte als bei den 20-Jährigen. Oder dass die 40-Jährigen durch bestimmte politische Ereignisse stärker politisiert wurden. Ein Alterseffekt liegt vor, wenn die Wahlberechtigten – unabhängig von ihrer Generation – eine zunehmende «Politisierung» zwischen dem 20. und 40. Altersjahr erfahren.
Um Alterseffekte von Generationeneffekten zu isolieren, wird die Wahlbeteiligung derselben Generationen in unterschiedlichem Alter – an den Wahlen 2007 und 2015 – analysiert.
Die Stadtzürcher Wahlberechtigten werden nach ihrem Alter am Tag der diesjährigen nationalen Wahlen, dem 18. Oktober 2015, einer Generation zugeteilt. So werden zum Beispiel alle Wahlberechtigten, die bei den diesjährigen Wahlen 26 Jahre alt waren, in die Generation der im Jahr 2015 26-Jährigen eingeteilt, und die heute 27-Jährigen bilden eine weitere Generation. Diesen Generationen wird nun ihre Wahlbeteiligung an den aktuellen und an den vergangenen eidgenössischen Wahlen – als sie acht Jahre jünger waren – zugeordnet.
Die Veränderungen der Wahlbeteiligung zwischen 2007 und 2015 werden in Grafik 2 dargestellt. Die Balken zeigen die Differenz der Wahlbeteiligungen in den Jahren 2015 und 2007. Ist die Differenz positiv, war die Wahlbeteiligung im Jahr 2015 höher, ist sie negativ, war sie im Jahr 2007 höher. Die Grafik zeigt beispielsweise, dass Frauen, die 2015 zwischen 26 und 38 Jahre alt waren, im Jahr 2007 deutlich seltener an den nationalen Wahlen teilgenommen haben als im Jahr 2015. Gleichzeitig haben über 81-jährige Männer 2015 seltener ihre Stimme abgegeben als 2007. Die deutlichen Änderungen in der Wahlbeteiligung zwischen den Jahren 2007 und 2015 lassen auf Alterseffekte schliessen, das heisst, die Beteiligung hat sich mit dem Alter verändert: Generationeneffekte scheinen eine vergleichsweise kleine Rolle zu spielen. Je nach Altersabschnitt gehen die Alterseffekte jedoch in unterschiedliche Richtungen.
Ein Vergleich mit den eidgenössischen Wahlen 2011 bestätigt zudem, dass die Wahlbeteiligung der verschiedenen Generationen in den schraffierten Bereichen jeweils schrittweise zu- beziehungsweise abgenommen hat. Dies legt den Schluss nahe, dass es sich um systematische Effekte und nicht um zufällige Schwankungen handelt.
Politisierung im frühen Erwachsenenalter
Für beide Geschlechter lassen sich drei ähnliche Alterseffekte beobachten (siehe schraffierte Flächen in Grafik 2). Wahlberechtigte, die im Jahr 2015 zwischen 26 und 38 Jahren alt sind, nahmen an den diesjährigen Wahlen deutlich häufiger teil als noch vor acht Jahren: Waren es 2007 37,1 Prozent, sind es 2015 48,1 Prozent. Das heisst: Die Wahlbeteiligung dieser Generationen hat zwischen dem 18. Lebensjahr – so alt waren die 2015 26-Jährigen bei den Wahlen 2007 – und dem 38. Lebensjahr mit fortschreitendem Alter um durchschnittlich 11 Prozentpunkte zugenommen.
Die Zeit zwischen dem 18. und 38. Lebensjahr ist oft geprägt von einem Anstieg des Bildungs- und Lohnniveaus, zunehmender Integration am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft generell. Es ist denkbar, dass solche Faktoren die Entwicklung einer politischen Identität begünstigen, die Kenntnisse politischer Zusammenhänge fördern und so den beobachteten Anstieg der Wahlbeteiligung in dieser Lebensphase erklären.
Stagnation im mittleren Alter, erneuter Anstieg ab 60
Die Wahlbeteiligung der aktuell 39- bis 59-Jährigen veränderte sich hingegen kaum: Vor acht Jahren hatten 50,2 Prozent von ihnen an den Wahlen teilgenommen, dieses Jahr waren es 51,1 Prozent. Das bedeutet, dass die Wahlbeteiligung dieser Generationen mit zunehmendem Alter nur um durchschnittlich 0,9 Prozentpunkte zugenommen hat. Die Stabilisierung der Wahlbeteiligung zwischen dem 38. und 60. Lebensjahr könnte auf ein Nachlassen der erwähnten Politisierung im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt hinweisen.
Ein positiver Alterseffekt ist wiederum bei der Altersgruppe zwischen 60 und 73 Jahren (Frauen) respektive 60 und 75 Jahren (Männer) zu beobachten – wenn auch in geringerem Masse als bei den 26- bis 38-Jährigen. Frauen zwischen 60 und 73 Jahren haben 2015 um 3,2 Prozentpunkte häufiger an den Wahlen teilgenommen als noch 2007. Die Wahlbeteiligung der Männer, die in diesem Wahljahr 60 bis 75 Jahre alt waren, war 2015 durchschnittlich 3,3 Prozentpunkte höher als 2007.
Beteiligungsabnahme im hohen Alter
Ein deutlich negativer Alterseffekt ist bei Frauen zu beobachten, die an den Wahlen 2015 76-jährig oder älter waren. Im Schnitt ist deren Wahlbeteiligung seit 2007 um 10,0 Prozentpunkte gesunken. Dasselbe gilt für Männer über 80 Jahren, die 2007 noch um 8,7 Prozentpunkte häufiger teilgenommen hatten als 2015.
Diese abnehmende Wahlbeteiligung im hohen Alter könnte mit einer Abnahme von politischem Interesse und einer geringeren Betroffenheit durch politische Entscheide zusammenhängen. Andererseits nehmen körperliche und psychische Erkrankungen in diesem Alter zu. Die bei Frauen bereits früher eintretende Abnahme der Wahlbeteiligung könnte auf einen Generationeneffekt zurückzuführen sein: Frauen in dieser Alterskategorie waren bei der Erlangung ihrer Volljährigkeit noch nicht wahlberechtigt. Das Frauenwahlrecht wurde in der Schweiz erst 1971 eingeführt.
Die Einteilung der Wahlberechtigen nach Alter im Jahr 2015 führt zu einer geringen Ungenauigkeit, weil Personen, die zwischen dem 18. und 23. Oktober Geburtstag haben, 2015 und 2007 in je andere Generationen eingeteilt werden. Eine weitere Ungenauigkeit ist darauf zurückzuführen, dass die Stadt Zürich jährlich je rund 15 000 Zu- und Wegzüge von Schweizer Wahlberechtigten verzeichnet. Die Individuen der Bevölkerung und der nach Generationengruppen eingeteilten Wahlberechtigten verändern sich zwischen den Wahljahren entsprechend. Für die Untersuchung nach Generationengruppen, also in einem bestimmten Zeitraum geborenen Personen, stellt das aber kaum ein Problem dar.
Die Analyse der Stimmberechtigten hat in der Stadt Zürich eine lange Tradition. Die Erhebung beruht auf der Auswertung der eingereichten Einmalstimmrechtsausweisen (ESRA). Auf diesen ist ein persönlicher Code aufgedruckt. Dieser wurde mit einem Auszug aus dem Personenregister verglichen, der alle wahlberechtigten Personen enthält. Die ESRA werden getrennt von den Wahl- und Abstimmungsdokumenten erfasst und die gewonnen Daten anonymisiert. Auf diese Art kann bestimmt werden, wer am Urnengang teilgenommen hat, nicht aber, wen die Personen gewählt haben.
Rückschlüsse auf einzelne Personen sind in den Auswertungen zu keinem Zeitpunkt möglich.