Global Navigation

Kunst und Bau als künstlerische Stadtforschung

Kunst und Bau interagiert nicht nur mit der Architektur, sondern untersucht den Ort, für den sie entwickelt wird, auf vielfältige Weise. Gerade in schnell wachsenden und sich verändernden stadträumlichen und städtebaulichen Zusammenhängen kann Kunst und Bau – können Kunst und Bauen – einen wichtigen Beitrag zur Stadtforschung leisten. Für die neu entstehende Wohnsiedlung Leutschenbach in Zürich-Seebach werden zwei Kunst-und-Bau-Projekte realisiert, die interessante Perspektiven im Diskurs um Ästhetik und Wirksamkeit von Kunst und Bau eröffnen.

Wohnsiedlung Leutschenbach

Visualisierung Aussenansicht Wohnsiedlung Leutschenbach
Die neu entstehende Wohnsiedlung Leutschenbach umfasst rund 400 neue Wohnungen (Bild: Clou Architekten AG).

Mit der städtischen Siedlung von Clou Architekten, Zürich, entsteht ein Ort von urbaner Dichte. Die Überbauung wird gleichermassen das Quartier verändern, wie auch dieses wiederum den Neubau prägt. Dieser orientiert sich mit den beiden zueinander ausgerichteten u-förmigen Baukörpern nach innen und ist doch gleichzeitig zum Quartier hin durchlässig. Das ehemalige Industrieumfeld, unterschiedliche Wohn- und Arbeitsformen, eine durchmischte Bevölkerung, der die Siedlung begleitende Leutschenbach und der diese durchquerende Riedgraben sind Teil einer vielfältigen urbanen Landschaft, mit der die Siedlung in Beziehung steht.
So war das Verständnis des urbanen Raums als dichtes Beziehungssystem menschlicher und nicht-menschlicher Interaktionen Grundgedanke der Wettbewerbsausschreibung. Die künstlerischen Projektvorschläge sollten sich auf diese reichen Beziehungsgeflechte und -potenziale einlassen und sie als Bestandteile des Urbanen und Sozialen untersuchen.

Wanderndes Licht

Modell Wohnsiedlung Leutschenbach mit wanderndem Licht
Kunst mit Licht: Das Projekt «Phänomen L» von Sarah Burger (Bild: Sarah Burger).

Die Künstlerin Sarah Burger gestaltet mit dem Projekt «Phänomen L» für die  Wohnsiedlung ein eigenes Lichtphänomen und setzt in der äusserst sparsamen materiellen Setzung ganz auf Wahrnehmung und Ereignis. Unterschiedlich farbige Glaselemente werden an vier Stellen im obersten Bereich der Innenhoffassaden angebracht. Ausgehend von der Einteilung des Jahres in vier Lichtperioden, die die Künstlerin von Tag- und Nachtgleiche sowie Winter- und Sonnenwende ableitet, wandert farbiges Licht über die inneren Fassaden und die Innenhofbereiche der beiden Siedlungsareale und wird zu bestimmten Tages- und Jahreszeiten an unterschiedlichen Stellen sichtbar. So werden die beiden Siedlungsareale auf fast immaterielle Weise miteinander verbunden. Dem siedlungseigenen Lichtphänomen kann unterschiedliche Aufmerksamkeit und Wirkung zukommen – auf individuelle Weise und auch als gemeinschaftsstiftendes Ereignis.

Archäologie der Gegenwart

Infotafel mit SRF-Gebäude im Hintergrund
Die neue Siedlung entsteht in unmittelbarer Nachbarschaft des SRF-Gebäudes (Bild: Archiv Iorio / Cuomo, 2017).

Das Künstlerduo Iorio / Cuomo (Maria Iorio und Raphaël Cuomo) begleitet mit dem mehrteiligen Langzeitprojekt «HI.ER» die Entstehung der Wohnsiedlung von den Transformationsprozessen der jetzigen Brache bis in die ersten Jahre des Bezugs. Mit filmischen Mitteln und Field Recordings wird in einer ersten Phase (2018–2022) die Geschichte des Ortes erzählt, wobei zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteurinnen und Akteuren nicht unterschieden wird. Diese parallelen Erzählungen des mehrteiligen Filmessays und der Oral History begründen eine «Archäologie der Gegenwart»: Das jeweils gegenwärtige Werden des Orts wird markiert, analysiert, dokumentiert und so zugänglich gemacht. Nach der ersten öffentlichen Ausstrahlung des Films werden Iorio / Cuomo in einer zweiten Phase (2022–2024) intensiv mit diesen Geschichten arbeiten. Auf einer Onlineplattform wird alles gewonnene und weiterhin generierte Material abrufbar sein. Über das Angebot einer sozialen Plattform mit Workshops und Filmreihen haben WohnsiedlungsbewohnerInnen und Quartierbevölkerung aktiv an der künstlerischen Produktion teil. Die Oral History wird weiter geschrieben und dient als Quelle für eine Reihe von Textinstallationen, die im und am Gebäude angebracht werden. Dadurch wird das Gebäude eine wahrnehmbare Historizität erhalten. Die vielfältigen Elemente des Projekts werden in einem abschliessenden Siedlungsfest und einer Serie von Publikationen zusammengeführt.

«HI.ER» von Iorio / Cuomo legt die unsichtbaren Schichten offen, die das jeweils Gegenwärtige konstituieren, und repräsentiert dasjenige und diejenigen, die dieses formen. Damit zielt das Kunst-und-Bau-Projekt auf ein urbanes Gedächtnis, das soziale und ökologische Dimensionen berücksichtigt. Darüber hinaus verspricht das Projekt auch eine Präsenz und Sichtbarkeit des Leutschenbachareals jenseits der lokalen Verortung. Verweist es doch sowohl formal als auch inhaltlich auf die aktuell stark diskutierte Digitalisierung und Vernetzung und thematisiert mit einem kritischen Impetus Lokalität, Mobilität, Migration und Begriffe von Heimat.

 

Text: Kristin Bauer

Weitere Informationen