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Texte im Letzigrund: Glücksfunde

Das Stadion Letzigrund ist weit über die sportliche und kulturelle Nutzung durch den Menschen hinaus auch in Bezug auf Lebensräume für Insekten und Pflanzen für die Gegend von grosser Bedeutung. Diese und viele weitere Faktoren nahm die Installation «Perle» von Hannes Rickli anlässlich des Ersatzneubaus des Stadions 2007 auf und verortete damit das Quartier im Stadion und umgekehrt. Wie viele andere Gebiete der Stadt erlebte auch das Letzi-Quartier in den letzten 15 Jahren bedeutende demografische Entwicklungen. Die technische Überholung des Kunstwerks 2021/22 unter der Leitung der Fachstelle Kunst und Bau vom Amt für Hochbauten erlaubte es, bestehende Listen von Datensätzen zu aktualisieren und mit Listen zu erweitern, die diese Entwicklung des Quartiers belegen. Um die Gegenwart auch künftig im Stadion und in der Arbeit von Hannes Rickli präsent zu halten, werden die Listen alle fünf Jahre aktualisiert.

Die karge Textform des Sports

Das Rückgrat des Sports sind Statistiken und Tabellen. Gezählte Tore und Fehlversuche, gemessene Zeiten und Zentimeter bilden seinen Rohstoff und finden in Form von Daten Eingang in Listen der Rekorde, der Teilnehmenden und der erzielten Punkte. Sie offenbaren eine Rangfolge, lassen Vergleiche zu und generieren im Kampf um grösstmögliche Differenz Ehrgeiz und Emotionen. Als Tribut an das typische Format des Sports verwendet Hannes Rickli in seiner Bodeninstallation «Perle» im Stadion Letzigrund die Liste als literarische Form.

Displays an überraschenden Orten.
Displays an überraschenden Orten.

Basierend auf einer akribischen und intensiven Recherche, wurden Daten aus der Entstehung, dem Betrieb und zu den sportlichen Ereignissen und biologischen Habitaten des Stadions zusammengetragen. Ebenso wurden die Entwicklung der Demografie und Nettomietpreise ausserhalb der Arena in mehrheitlich neue, eigens für diese Arbeit erstellte Listen überführt. Insgesamt 53 Listen fliessen nun als Lauftext in 29 kleinen LCD-Displays, die gruppiert und scheinbar beliebig in verschiedenen Bereichen im Boden des Stadions eingelassen sind.

So treffen möglicherweise die Namen der unterschiedlichen Heuschreckenarten auf dem Stadiondach des einen Displays auf die Auflistung der Herkunftsländer der Mitarbeitenden für den Stadion-Neubau von 2005 bis 2007. Oder die Liste der geschlachteten Tiere im Schlachthof Zürich tritt in Nachbarschaft zu Leichtathletik-Weltrekorden oder sämtlichen Titeln der an Grosskonzerten gespielten Songs in anderen Displays. Nachdem eine Liste vollständig durchgelaufen ist, startet − vom Zufallsgenerator ausgewählt − eine neue und erzeugt dadurch auf jedem Monitor eine individuelle, sich stetig verändernde Endlosschlaufe.

Geschichten zum Stadion und übers Quartier

Textelemente wecken Erinnerungen und stossen zu Überlegungen an.
Textelemente wecken Erinnerungen und stossen zu Überlegungen an.

Mit den Listen verdeutlicht Rickli die vielfältigen, im Stadion mitwirkenden Elemente und Systeme sowie deren Veränderung über die Zeit in dessen Umfeld und schreibt dieses Wissen mittels Monitoren als digitale Schrift in den Boden des Stadions ein. Sie zeigen auf, welchen ökonomischen und gesellschaftlichen Einfluss und welche ökologische Bedeutung der Neubau des Stadions Letzigrund auf das umgebende Quartier weit über seine polysportliche und kulturelle Nutzung hinaus hat. Die technische Revision der Arbeit im Jahr 2021 ermöglichte die Aktualisierung bestehender Listen und deren Erweiterung mit neuen, die insbesondere gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen im Umfeld des Stadions aufgreifen.

Zufällig treffen verschiedene Kategorien, Skalierungen und Realitäten aufeinander und erzeugen eine sich ständig wandelnde Prosa für diejenigen, die sich der Aufmerksamkeitsökonomie folgend vom Geschehen in der Platzmitte oder beim Anstehen für Essen ablenken lassen möchten. Der konstante Fluss an Informationen fordert die Lesenden heraus: Ergänzend zur bereits bestehenden Fülle an Sinneseindrücken im Stadion weisen die unablässig parallell dazu laufenden Texte auf zusätzliche zeitliche und geografische Räume inner- und ausserhalb des Letzigrunds hin.

Botschaften zu Füssen erheischen Aufmerksamkeit.
Botschaften zu Füssen erheischen Aufmerksamkeit.

Das Auge muss sich einüben in die Lektüre der Einträge auf den rudimentären Displays, die zur Anzeige in Industrieanwendungen entwickelt wurden. Die gewählte Ästhetik der LCD-Displays, krude und technisch, widerspiegelt die Reduktion von Konzertvergnügen, Quartierleben, Biodiversität und Fussballbegeisterung auf das Format vereinheitlichter Daten. Der Text soll erarbeitet werden, er ist ein Fundstück, sowohl visuell als auch örtlich. Es bleibt ein Geschenk, eine echte Perle in einer Muschel zu finden. Dieses fällt jenen zu, die sich möglicherweise nur beiläufig umsehen und ihre Aufmerksamkeit einem unvorhergesehenen Detail widmen. Ein Glücksfund eben.

Glück ist auch notwendig, um die scheinbar beliebig verteilten Displays zu entdecken, denn Lagepläne zur «Perle» gibt es bewusst keine. Der Titel dieser Installation, den Rickli anlässlich des Neubaus des Stadions entwickelt hat, ist die Weiterführung des metaphorisch «Corculum Impressum» bezeichneten Projekts der Architekten Bétrix & Consolascio – der Name einer filigranen, symbiotisch lebenden, herzförmigen Meeresmuschel.

Text: Franz Krähenbühl
Mitarbeit Recherche und Listen: Aline Suter, Pascal Claude
Foto: Peter Lüem

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