«Es ist es nie schwierig, Patientinnen und Patienten mit Demenz zum Musizieren zu animieren. Sie sind der Musik und dem Singen gegenüber sehr positiv eingestellt. Denn das musikalische Gedächtnis bleibt auch in der Demenz erhalten.» Diese Worte von Dr. med. Irene Bopp-Kistler überraschen und erfreuen zugleich. Die Leitende Ärztin der ambulanten Dienste und der Memory Clinic am Standort Waid des Stadtspitals Waid und Triemli muss es ja wissen. Sie hat tagtäglich mit Betroffenen zu tun, die an Alzheimer oder anderen dementiellen Erkrankungen leiden. Sie weiss, welche positiven Auswirkungen Musik im Alltag der Betroffenen haben kann. Demenzerkrankte Menschen zu unterrichten, ist bereichernd, aber auch Herausforderung zugleich.
Mögliche Fortschritte
Grundlage sind zahlreiche Studien von Medizinern und Musikwissenschaftlern. Zu letzteren gehört Prof. Theo Hartogh von der Universität Vechta in Deutschland. Er ist davon überzeugt, dass Demenzerkrankte musikalisch sogar Fortschritte machen können, obwohl andere Fähigkeiten schwinden. Sie könnten Klavierspielen erlernen oder in Chören singen. «In diesem Bereich bedeutet Demenz also nicht Abbau. Hier können stattdessen Kompetenzen und Ressourcen entdeckt, gefordert und gefördert werden.»
Dr. med. Irene Bopp denkt weniger an ein spezifisches Instrument wie Klavier: «Demenzbetroffene sollen Instrumente spielen, die sie schon immer gespielt haben. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, wenn es nicht mehr möglich ist, nach Noten zu lesen oder ein Instrument zu spielen. Ich denke zum Beispiel an Rasseln, an einen Gong, an Klangschalen etc. Dies wird bei uns im Waid so in der Musiktherapie praktiziert.» Gemäss ihren Erfahrungen ist das Erlernen von neuen Stücken vermindert. «Doch Demenzerkrankte sind teils Virtuosen im Improvisieren», so Bopp-Kistler.
Positive Effekte
Generell gilt Musik in der Fachwelt als bestens geeignetes Mittel, um Freude zu empfinden und zu bereiten. Zudem führt sie zu einer allgemeinen Aktivierung und stellt einen idealen Weg dar, um sich gegenseitig zu verständigen. Das Musizieren führt zu einer Reihe von positiven Nebeneffekten: Primär geht die innere Unruhe der Demenzbetroffenen spürbar zurück. Das erleichtert auch deren Pflege. Das Gedächtnis, das Denkvermögen, die Kreativität und die Motorik werden trainiert. Je nach Demenzgrad steht das Liederspielen, die Improvisation oder das Musikhören im Zentrum. Lernerfolge sind beobachtbar. Die Betroffenen erleben Freude und Lebensqualität und nehmen ihre Symptome kaum mehr wahr. Das wirkt sich auch auf die Angehörigen positiv aus. Dr. Irene Bopp-Kistler erklärt: «Es ist bekannt, dass Musik und Singen das verbale Gedächtnis stärkt. Der präfrontale Kortex, in dem das musikalische Gedächtnis beheimatet ist, stimuliert auch unser verbales Gedächtnis. Sagen Sie einmal eine Strophe eines Liedes auf, ohne es zu singen. Das ist viel schwieriger, als wenn man sie singt. Beim Singen kommen die Worte wie von selbst. Singen und Musizieren stimuliert aber auch das übrige Gedächtnis. Erinnerungen werden wach, schöne und traurige. Genau das ist das Geniale an der Musik! Das Lied ‹Stille Nacht› beispielsweise weckt Kindheitserinnerungen. Plötzlich erinnern sich Demenzerkrankte wieder an frühere Zeiten.»
Und noch etwas fällt auf: Wenn die Betroffenen zu singen beginnen, ändert sich ihre Körperhaltung. Sie richten sich auf, holen tief Luft, ihre Augen glänzen und die Stimme wird kräftiger und klarer. Sie geniessen vollumfänglich das Jetzt ‒ ohne Hinterfragen.
Weihnachten ohne Gesang
Während diesen Festtagen ist Singen wegen des Coronavirus SARS-CoV2 nicht empfehlenswert. Realisieren das die Patienten? «Das habe ich bis jetzt noch nie angesprochen», sagt Bopp-Kistler. «Wir führen im Waidspital die Musiktherapie für Menschen mit Demenz unter grössten Sicherheitsmassnahmen mit Masken durch. Diese Stunde ist immer das Highlight der ganzen Woche. Es geht sehr gut mit Masken. Ihre Akzeptanz ist bei Demenzkranken aus meiner Sicht besser, als man es erwarten könnte», berichtet die Altersmedizinerin.