Global Navigation

Kunst und Bau ewz-Unterwerk Oerlikon

Spannung im Unterwerk – Der Gefangene Floh

Das Schaufenster als Guckkasten.
Das Schaufenster als Guckkasten. Foto: Roger Frei

Yves Netzhammer hat im neuen Unterwerk des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (ewz) im Industriequartier von Oerlikon ein riesiges Wahrnehmungslabyrinth angelegt. Seine Installation aus Spiegeln, Zeichnungen, Licht und Sprache erweitert die Architektur und verwandelt die unterirdische Welt der elektrischen Anlagen in einen weiten, dynamischen Assoziationsraum, in dem die Wandlungsprozesse, die im Gebäudeinnern stattfinden, ein vielfältiges Echo finden.

Ein unendlich gespiegelter Raum.
Ein unendlich gespiegelter Raum. Foto: Roger Frei

Mitten in Netzhammers Laborraum sitzt tatsächlich eine Chimäre, halb Mensch, halb Floh, im Spiegelstadium gefangen. «Der Gefangene Floh», so der seltsam anmutende Titel der Installation, der mit hintergründigem Witz auf das Bedeutungsspektrum anspielt, das in der deutschen Sprache mit der Gross- und Kleinschreibung einhergeht, ist inspiriert von «Morels Erfindung». Dieser 1940 veröffentlichte Roman des Argentiniers Adolfo Bioy Casares, der damals von Jorge Luis Borges für die «Genauigkeit der fantastischen Erfindung» gelobt wurde, erscheint aus heutiger Sicht nicht mehr gänzlich utopisch.

In seiner Erzählung lässt Casares den Ingenieur Morel auf einer einsamen Insel eine Maschinerie erfinden, welche die Aufnahme und Wiedergabe in dreidimensionaler Form ermöglicht. Dort gestrandet, begegnet der Erzähler, ein namenloser politischer Dissident auf der Flucht, holografisch simulierten Bewohnerinnen und Bewohnern und nimmt Beziehungen zu den fiktiven Figuren auf. Erst im Verlauf der Geschichte entdeckt er Morels Maschinerie und enthüllt ihre Funktionsweise. Zusehends verstrickt sich der Erzähler im virtuellen Netz, bis er schliesslich selbst im Cyberparadies aufgeht, das Ewigkeit verspricht.  

Farbwechsel schaffen...
Farbwechsel schaffen...

Für seine Intervention nutzt der Künstler die architektonische Erschliessung des Unterwerks: Eine breite Fensterfront öffnet von der Strasse aus die Sicht ins Innere und gewährt den Passantinnen und Passanten ungewohnte Einblicke in den Schaltanlageraum, der 12 Meter tief unter die Erdoberfläche reicht. Das öffentliche Schaufenster zu einem der Knotenpunkte der Stromversorgung hat das Architektenteam illiz aus Zürich und Wien bewusst als Variation eines Guckkastens interpretiert.

Die Idee geht zurück auf jenen gleichnamigen optischen Apparat, der im 18. Jahrhundert als Attraktion im öffentlichen Raum hoch im Kurs stand, weil er mit der Spannung des Unerklärlichen lockte und mit Ausblicken auf unbekannte Welten zu überraschen verstand.

Unendlich viele Facetten

Die Interpretation des Guckkastens als synthetisierender Projektionsraum, in dem philosophische, ästhetische und wissenschaftliche Diskurse mit neuen Technologien und sozio-ökonomischen Kräften zusammentreffen, nimmt Yves Netzhammer (geb. 1970 in Schaffhausen) als gedanklichen Ausgangspunkt. Er inszeniert die Halle mit den Schaltanlagen und schafft ein pulsierendes Universum. Die Wände und die Decke des Raums sind gänzlich verspiegelt. Aus schwarzer Folie geschnittene Wesen und Objekte sind unmittelbar auf den spiegelnden Oberflächen angebracht, so dass sie zusammen mit den elektrotechnischen Anlagen in einer unendlichen Szenerie verschmelzen. Betreten BesucherInnen den Raum, lauert auch das eigene Spiegelbild überall. Ein Raster aus Lampen taucht den Innenraum in wechselndes atmosphärisches Licht, das bei Dunkelheit seine wahre Anziehungskraft entfaltet. Fast scheint es, als würden die auf- und abschwellenden Energieströme, die im übertragenen Sinn vom Unterwerk ausgehen, in den Lichtimpulsen ihre Entsprechung finden. «Was nützt Energie ohne Zeit?» mahnt eine eindringliche Stimme, die durch Lautsprecher in den Innen- und Aussenbereich dringt und einen bildhaften Text des Künstlers vorträgt.

... unterschiedliche Stimmungen
... unterschiedliche Stimmungen

Raum zwischen Realität und Fiktion

Netzhammer teilt Casares’ vielschichtige Vorstellung von Realität, in der sich die drängenden Fragen des Lebens immer neu spiegeln und verhandeln lassen. Ist die heutige Medienwelt nicht auch eine Art Spiegelkabinett, in dem wir uns täglich aufs Neue reflektieren? Wie orientieren wir uns in einer Welt, in der sich Reales und Fiktives in der Simulation vermischt? Bereits in früheren Werken von Yves Netzhammer spielt die Auseinandersetzung mit Identität, dem Verhältnis von Natur, Mensch und Technik, mit Fremd- und Selbstbetrachtung, oder etwa mit der Angst vor dem Selbstverlust angesichts der zunehmenden medialen und technologischen Durchdringung der Welt eine zentrale Rolle. In seiner Installation im Unterwerk finden diese Fragen ihren Resonanzraum: Der Künstler verbindet reale und mentale Räume zu Reflexionsräumen zwischen Realität und Fiktion, die assoziative Bildvorstellungen auslösen und letztlich zur Überprüfung des eigenen Standpunktes anregen.

Die Arbeit von Yves Netzhammer ist als Siegerprojekt aus einem Wettbewerb hervorgegangen, den das ewz in Zusammenarbeit mit der Fachstelle Kunst und Bau lancierte. Vor dem Hintergrund der hochkomplexen Bauaufgabe ist es zweifellos eine glückliche Fügung, dass sich die Bauherrschaft, die Architekten und der Künstler auf die Realisierung dieser umfassenden Kunstintervention eingelassen haben. Gelungen ist eine faszinierende Symbiose, in der sich Kunst, Technik und Architektur gegenseitig bedingen und eine Verbindung eingehen, die zum Staunen bringt und zum Nachdenken anregt. 

Katrin Steffen

Weitere Informationen