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Kunst-Newsletter: Die Kunst der Einladung

Haus am Gern, «SOSOS'», 2020, für die Wohnsiedlung Hornbach

Die grossen Mosaike verbinden die ganze Überbauung ...

Die Kunst des 20. Jahrhunderts kann als Geschichte der Emanzipation gelesen und verstanden werden: weg von Kirche und Adel, hin zur Selbstbestimmung; weg vom Dasein als Auftragsempfänger*in, hin zum Leben als freie*r Künstler*in. Keine Kunst mehr im Dienste von jemandem: keine Marienbildnisse mehr malen, Heilige inszenieren, Paradiese und Höllen darstellen; auch keine Könige in Bronze mehr giessen, Prinzen verschönern und Herzoginnen ehren. Weg von der Abhängigkeit, hin zur Freiheit. Nicht zufällig steht an der Fassade der Wiener Secession, dem 1898 eröffneten Tempel der Moderne, Folgendes geschrieben: Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit. Das ist im Grunde eine der Leitplanken, entlang derer sich die Kunst des letzten Jahrhunderts entwickelt hat, an der sie gemessen wurde. Es war (und bleibt) ein ehrgeiziges Ziel und stellt kein unrealistisches Vorhaben dar, obschon bekanntlich alles immer komplizierter und widersprüchlicher ist. Aus diesen wichtigen Emanzipationsbestrebungen ist im Verlauf der Jahrzehnte eine Heldengeschichte entstanden (weniger eine Heldinnengeschichte), die von Museen, Universitäten, Schulen und von den Kunstschaffenden selbst gefeiert und zu einem neuen Kanon erhoben wurde. Dieser Kanon wird nun im 21. Jahrhundert ein weiteres Mal grundsätzlich in Frage gestellt, aber das ist ein anderes Thema.

... und markieren auch die einzelnen Zugänge.

Im Kontext dieser Emanzipationsgeschichte hatte die sogenannte «Kunst am Bau» wie die «Kunst im öffentlichen Raum» einen schwierigen Stand. Sie musste sich im Widerspruch dazu entwickeln, weil sie in den Dunstkreis von Dienstleistung trat und in Abhängigkeit von Architekt*in, Investor*innen oder staatlichen Stellen geriet. Sie musste Budgets und Zeitpläne einhalten, Kompromisse eingehen und oftmals auf künstlerische Freiheit verzichten. Unterschiedlichsten Interessen und Vorstellungen ausgesetzt, agierte sie weit entfernt vom White Cube, diesem geschützten Raum, der die (scheinbare) Unabhängigkeit der Kunst zelebrierte und sie fit für den Markt machte. Die Geschichte von Kunst am Bau ist tief geprägt von dieser Spannung zwischen Auftrag und Emanzipation, zwischen Autonomie und Dienst an der Öffentlichkeit. An ihr zeigt sich exemplarisch ein grosses Drama der Kunst im 20. Jahrhundert: im Dauerkonflikt zu stehen, zwischen dem Anspruch «Kunst für alle!» und der Suche nach absoluter Exklusivität und Einzigartigkeit. Das führte zu unzähligen Ausformungen, Ideen und Objekten, die heute unsere Städte bevölkern, oft tatsächlich verschönern und manchmal leider verunstalten. 

«Unaufgeräumte Böden»: Was nach dem Fest übrig bleibt.

Das ist einer von möglichen Kontexten, in welchem «SOSOS'», das Projekt von Haus am Gern für die Wohnsiedlung Hornbach in Zürich, gesehen und geschätzt werden kann. Die von Barbara Meyer Cesta und Rudolf Steiner entworfenen Mosaike für die dortigen Hauseingänge leben vom Wissen um die oben beschriebenen Widersprüche und Spannungen – kümmern sich aber nicht gross darum. Sie haben sich davon losgesagt, ohne sie zu ignorieren oder zu verdrängen. Dadurch ist ein Freiraum entstanden für ein Vorgehen, das Geschichte, Bildtradition, Kunstfertigkeit, Hingabe, Dekoration, Nützlichkeit, Ironie und Genuss gleichberechtigt behandelt. Nicht zuletzt ist dies dem Medium Mosaik geschuldet, denn es vereint in sich selbst viele dieser Qualitäten: Es ist zeitgenössisches Handwerk und mehrere tausend Jahre alte Tradition, es dient der ornamentalen Dekoration und Verschönerung, aber auch der Darstellung hochkomplexer ikonographischer Programme, wie etwa in Ravennas frühchristlichen Basiliken. Zudem passt das Mosaik überall hin, es ist fürs Badezimmer ebenso geeignet wie für den heiligen Tempel, für die feudale Villa ebenso wie für den verschwitzten Fitnessclub, für den blanken Fussboden ebenso wie für die majestätische Kuppel. Das macht denn auch den Reiz und den Wert von «SOSOS'» aus: es könnte überall sein, ist hier aber besonders sinnvoll. Denn die Technik mag universell sein, die Motive aber sind für diesen Ort konzipiert – obschon sie aus einer fast 2000-jährigen Villa in Rom stammen. Auf diesem berühmten Mosaik, das sich im Besitz der Vatikanischen Museen befindet, ist eine Alltagsszene zu sehen, und zwar die eines unaufgeräumten Bodens («asàrotos òikos») voller verstreuter Essensresten. Die Situation ist allen nur allzu bekannt, es ist die Unordnung nach einem rauschenden Fest mit Spuren der Zügellosigkeit, des Feierns und des guten Lebens – kurz, der Albtraum aller Abwart*innen. Genau diese Szene schmückt nun die Wohnüberbauung Hornbach in Zürich-Riesbach, verbindet alle Hauseingänge untereinander und macht sie gleichzeitig einzigartig. Denn jedes Mosaik zeigt einen stark vergrösserten, unterschiedlichen Ausschnitt des Gesamtbildes, so dass die Bewohner*innen täglich an «ihrem» Eingang vorbeigehen. Für manche ist es eine übergrosse offene Muschel, für andere eine riesige reife Feige, für wieder andere ein Fischkopf oder eine Schnecke. 

So feiert dieses Mosaik das Leben und sein Chaos, das Fest, den Rausch und das Essen – und steht im Dienste der Bewohner*innen der Wohnsiedlung. Denn auch sie werden Feste feiern und dann ihren Eingeladenen sagen können: «Du musst dort klingeln, wo du einen Seeigel (oder eine Traube oder einen Hühnerknochen) an der Wand siehst.» So ist «SOSOS'» Mosaik, Bild und Wegweiser gleichzeitig, Kunst und Ornament, Geschichte und Erinnerung an vergangene Abende. Vor allem aber ist «SOSOS'» nicht von der Idee einer Einladung zu trennen, Gastfreundschaft aber ist, neben der Kunst, etwas vom Wichtigsten im Leben.

Text: Daniel Baumann

Der Text von Daniel Baumann ist in der Publikation zu «SOSOS'» von Haus am Gern erschienen. Herausgeberin: Stadt Zürich, Amt für Hochbauten, Fachstelle Kunst und Bau.
Link zur Publikation: stadt-zuerich.ch/kunsthornbach

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