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Zürcher Schaudepot digital

Jetzt ist das Online-Archiv der von der Stadt Zürich seit über 120 Jahren in Auftrag gegebenen oder erworbenen Kunstwerke öffentlich. Damit sind die Schätze der städtischen Kunstsammlung erstmals in einem digitalen Überblick für jede*n zugänglich und sichtbar.

Hermann Hubacher, «Ganymed», 1946–1952, Bronzeguss. Foto: Martin Stollenwerk/Kunst im öffentlichen Raum Stadt Zürich
Hermann Hubacher, «Ganymed», 1946–1952, Bronzeguss. Foto: Martin Stollenwerk/Kunst im öffentlichen Raum Stadt Zürich

Von Max Glauner

Diese Statue kennen Sie sicher, die «Entführung in den Olymp». Ja, so heisst die Bronze-Plastik am Bürkli-Platz-Seeufer ursprünglich: der Knabe Ganymed, splitternackt, den rechten Arm in den blauen Zürcher Himmel erhoben, vor ihm erwartungsvoll der Göttervater Zeus in Gestalt eines Adlers. Und am Horizont winken die Berge. Das Werk von Hermann Hubacher steht ikonisch für Zürich, wie etwa Niki de Saint Phalles Schutzengel «L’Ange protecteur» in der Halle des Hauptbahnhofs von Jakob Friedrich Wanner.

Alois Carigiet, «Landschaft mit Schlitten», 1943, Öl auf Sperrholz. Foto: Martin Stollenwerk/Kunstsammlung Stadt Zürich
Alois Carigiet, «Landschaft mit Schlitten», 1943, Öl auf Sperrholz. Foto: Martin Stollenwerk/Kunstsammlung Stadt Zürich

Bei der «Landschaft mit Schlitten» wird es schwieriger. Der Schellen-Ursli-Illustrator Alois Carigiet hat das zauberhafte Ölgemälde mittleren Formats im Weltkriegsjahr 1943 geschaffen. Heute hängt es im Besprechungsraum eines Schulhauses in Schwamendingen. Nur wenige Zürcher*innen werden es je zu Gesicht bekommen haben.

Peter Regli, «Reality Hacking No. 193» (Earth from Space), 2002, Grossbild-Dia in Leuchtkasten; 6-teilig. Foto: Pietro Mattioli/Kunst und Bau Stadt Zürich
Peter Regli, «Reality Hacking No. 193» (Earth from Space), 2002, Grossbild-Dia in Leuchtkasten; 6-teilig. Foto: Pietro Mattioli/Kunst und Bau Stadt Zürich

Auch «Reality Hacking Nr. 193» von Peter Regli ist einem bestimmten Publikum vorbehalten. Der Künstler entwickelte seine Arbeit speziell für die bettlägerigen Patienten im Stadtspital Triemli: Leuchtbilder an den Decken über den Bettenliften zeigen NASA-Aufnahmen der Erde, aufgenommen von einem Space Shuttle.

Alle drei Arbeiten wurden von Zürcher Künstlern geschaffen. Und sie teilen eine weitere wichtige Eigenschaft: Sie befinden sich allesamt im Eigentum der Stadt Zürich. Sie sind von ihr erworben worden, werden von ihr bewirtschaftet und gepflegt. Sie sind im öffentlichen Raum, an Gebäuden, in städtischen Büros und Korridoren, in Spitälern, Schulhäusern und Wohnsiedlungen und nicht zuletzt im Kunstlager der Stadt zu finden.

Mittlerweile sind das über 30 500 Arbeiten. Das ist beachtlich. Zum Vergleich: Die städtische Kunstsammlung Bern bewirtschaftet 4200 Werke aus Malerei, Skulptur, Druck, Zeichnung, Fotografie, Video; die Stadt Luzern 3400. Diese Kunstwerke repräsentieren das Kunstschaffen der Stadt in seiner breiten Vielfalt aus den vergangenen 120 Jahren. Seit sich die Stadt als aktive Kunstförderin betätigt und selbst Werke erwirbt oder in Auftrag gibt: eine unglaubliche Sammlung ohne Haus, die in ihrer Gänze nie auch nur annähernd ausgestellt werden kann. Nicht einmal ein aufgelassener Flugzeughangar in Dübendorf würde dafür reichen.

Drei Fachstellen sind für die Stadtzürcher «Collection» zuständig: bei Immobilien Stadt Zürich die Fachstelle Kunstsammlung, beim Tiefbauamt die dort angesiedelte KiöR (Kunst im öffentlichen Raum) und im Amt für Hochbauten die Fachstelle Kunst und Bau. Diese hat die Werke, die seit den 2000er-Jahren im Zusammenhang mit städtischen Bauprojekten entstanden sind, seit längerem im Netz mit Abbildungen, Werkinformationen und Begleittexten dokumentiert. Und auch die Werke der KiöR sind seit 2015 mit Foto und Grunddaten im Züriplan zu finden.

Dazu werden aktuelle Neuankäufe für die Kunstsammlung der Stadt alle vier Jahre in einer Ausstellung im Helmhaus Zürich präsentiert – so jetzt ab 2. Dezember 2022 bis 22. Januar 2023 (Vernissage 1. Dezember). Öffentlichkeit wird auch durch den gemeinsamen Kunst-Newsletter der Stadt hergestellt, in dem alle Fachstellen regelmässig über ihre Aktivitäten und Projekte berichten. Das sorgt für viele Einsichten. Doch der Überblick fiel schwer. Die gesamten Bestände waren bisher nicht zugänglich.

Ein Postulat, das 2013 im Gemeinderat lanciert wurde, gab Anstoss zur Abhilfe. Der Weg war vorgezeichnet für das, was treffend mit André Malraux' «Musée imaginaire» – einem umfassenden virtuellen Museum für Zuhause – oder Jorge Luis Borges' Allegorie des «Aleph» beschrieben werden kann. Profaner ausgedrückt: Die digitale Datenbank der Kunstwerke aller drei Fachstellen der Stadt Zürich ist seit November 2022 online.

Das digitale Archiv lädt zu Entdeckungen ein.
Das digitale Archiv lädt zu Entdeckungen ein.

Damit ist nun die ganze Kunst im Besitz der Stadt Zürich, vom Holzschnitt über die Video-Installation bis zum Escher-Denkmal am Bahnhof, inklusive Hubachers «Ganymed»,  Carigiets «Schlitten» und Reglis «Weltallbilder» an einem Ort versammelt – die Fantasie Borges’, der das «Aleph» gleichsam als positives Schwarzes Loch, als den Punkt imaginiert, der alle Punkte und Ereignisse der Welt in sich vereint. Mit dem Online-Portal entsteht, wenn man so will, ein «Aleph» für die Kunst der Limmatstadt, ein Online-Schaudepot im digitalen Raum.

Die Sammlung offenbart grosse, inspirierende Vielfalt.
Die Sammlung offenbart grosse, inspirierende Vielfalt.

Bis zum Start wurde ein guter Teil der nötigen Datensätze, die Verschlagwortung brauchbar erstellt. Weitere werden in der Folgezeit durch die Fachstellen hinzukommen. Schliesslich befindet sich das Online-Archiv aber in einem permanenten Wandel, kommen doch jährlich viele neue Arbeiten hinzu, auf die wir gespannt sein dürfen. Es wird möglich, die Sammlungsaktivitäten näher zu beobachten als bisher. Die Kunstsammlung erhält zusätzliche Aufmerksamkeit. Die Portfolio-Funktion ermöglicht den Benützer*innen zudem, ihre Lieblingswerke zu einer eigenen Zürich-Kunst-Sammlung zusammenzustellen. Über den Freizeitspass hinaus dürfte dies erheblich zur Identifikation mit dem Kunstbestand der Stadt, ja der Stadt Zürich selbst, beitragen. Über die Portfolio-Funktion wird der kritische Geist geweckt, der nach seinen individuellen Kriterien einzelne Arbeiten auswählt. Er wird dabei ebenso Überraschungen erleben, wie bei der Suche Lücken finden. Wird sich jemand mit Fragen oder Kritik an die Fachstellen wenden? Das wäre ein konstruktives Feedback. Die dortigen Fachfrauen und -männer werden gespannt sein.

Nach Niki de Saint Phalles «Schutzengel» zum Beispiel suchen wir im Zürcher Kunst-Aleph vergeblich, trotz aller Erwartung und Prominenz. Er gehört der SBB und nicht der Stadt. So schwebt er vorerst weit ausserhalb archivarischer Bemühungen. Doch das ist Engeln so eigen.

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