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Familiengeschichten

Die Entwicklung von Geschlechterrollen und Geschlechtsidentität in den letzten 200 Jahren zeigt, dass sich diese immer wieder wandelt. Sie ist geprägt von gesellschaftlichen Idealen, wirtschaftlichen Voraussetzungen und rechtlichen Rahmenbedingungen.

Symbolbild

In unseren Köpfen herrscht oft die Annahme, dass die Familienverhältnisse umso traditioneller waren, je weiter wir in die Geschichte zurückblicken. Diese Annahme ist jedoch falsch. Gerade was die Geschlechterverhältnisse in Europa betrifft war die Frühe Neuzeit, also die Zeit von etwa 1500 bis 1800, viel moderner, als wir vermuten würden. Die Lebensrealitäten waren schon immer sehr vielfältig und die hohe Müttersterblichkeit und überhaupt die hohe Sterblichkeit von Eltern und Kindern im Allgemeinen führte dazu, dass sich viele Familien in vielfältigen Familienformen zusammensetzten. Es ging darum, das Überleben zu sichern, indem man sich zusammentat und im selben Haus und Hof lebte und arbeitete. Die Kinder wurden ihrem Alter und ihren Fähigkeiten entsprechend bei den Arbeiten im Haus und im Freien eingesetzt.

Die Geschlechterrollen waren damals noch relativ flexibel, die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern war weniger strikt als später in der Moderne.

Am Übergang zur Moderne, mit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters im 19. Jahrhundert, begann auch die Zeit des Ideals der bürgerlichen Kleinfamilie. Dieses Ideal, das einen Haupternährer und eine Hausfrau vorsah, verbreitete sich im 20. Jahrhundert zunehmend. Allerdings konnten viele dieses Ideal, wenn überhaupt, erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg während des wirtschaftlichen Aufschwungs verwirklichen.

In der Pädagogik begannen sich Forschende wie zum Beispiel der Aufklärer Johann Heinrich Pestalozzi Gedanken über die Geschlechterrollen (Mann und Frau bzw. Vater und Mutter), die Familie und die «richtige» Erziehung Gedanken zu machen. Für die meisten Pädagog*innen war die Mutter-Kind-Beziehung die wichtigste Grundlage für eine gesunde Entwicklung des Kindes. Sie machten sich auch Gedanken darüber, wie Töchter und Söhne unterschiedlich erzogen werden sollten. Die fachlichen Überlegungen wurden mit einem normativen «Zwei-Geschlechter-Modell» verbunden und verbreitet.

Im Zuge der Industrialisierung ging der Vater zunehmend einer ausserhäuslichen Erwerbstätigkeit nach. Hausarbeit wurde zunehmend als unproduktiv angesehen. Sie wurde nicht bezahlt und daher als selbstverständlich angesehen, denn sie werde aus Liebe geleistet. Einer Liebe, die den Frauen nach Ansicht der Pädagog*innen «natürlich» gegeben sei.

Nicht selten gab es aber auch Familien, die sich sozusagen im Schichtbetrieb zu Hause abwechselten und beide ausser Haus arbeiteten, um das benötigte Familieneinkommen zu sichern.

Die früheren Einflüsse hinsichtlich der Vorstellung und der Gestaltung der Familienformen prägten und prägen also weiterhin die Identitätsentwicklung von Kindern. Mit Hilfe von passendem Fachwissen können diese Einflüsse auf eigene Vorstellungen und Handlungen reflektiert werden.


 

Quelle

NZZ Geschichte, Nr. 31 Dezember 2020. Sehnsucht nach Nähe. Die Geschichte der Familie. 

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