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Interview mit Christa Kappler

Christa Kappler forscht und publiziert über die Entwicklung und die Lebensverhältnisse von Schulkindern rund um die Genderthematik. Im Interview erklärt sie unter anderem, was geschlechtersensible Erziehung bedeutet, und warum stereotype Rollenspiele nicht schlecht sein müssen.

Christa Kappler, Sie sind Dozentin und Mitglied der Kommission Diversity_Gender an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Dort forschen und publizieren Sie über die Entwicklung und die Lebensverhältnisse von Schulkindern rund um die Genderthematik. Warum braucht es eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Themen?

Geschlecht ist eine wirkungsvolle Dimension in unserem Leben, wohl als allererstes kategorisieren wir – meist ganz unbewusst – unser Gegenüber nach Geschlecht. An sich ist dagegen nichts einzuwenden, solange es dabei nicht zu Einschränkungen und Nachteilen kommt. Jedoch sind wir alle, also auch Pädagog*innen und Eltern bzw. Erziehungsberechtigte, von unbewussten Bildern und Wertvorstellungen geprägt, beispielsweise was «typisch Junge» oder «typisch Mädchen» ist. Wir können das nicht einfach ausknipsen, aber wir können uns dieser Haltungen bewusstwerden und sie reflektieren.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung hilft dabei, den unbewussten Mechanismen auf die Spur zu kommen. Wir können damit Ansätze aufzuzeigen, wie wir dem Individuum gerecht werden können, ohne dabei ausser Acht zu lassen, dass es gleichzeitig in eine Gesellschaft und Kultur eingebettet ist. Das ist grade in der Schule ganz wichtig, wo Noten und damit gesellschaftliche Chancen verteilt werden. Die Schule als Lernraum, aber auch als wichtiger Lebensraum, ist für Kinder von enormer Bedeutung, damit sie sich entfalten und gesund entwickeln können.

Symbolbild
Christa Kappler

Kinder lernen bereits im Vorschulalter gesellschaftlich zugeschriebene Geschlechter wie z.B. Mädchen oder Junge kennen. Wie sollen Eltern, die ihr Kind geschlechtersensibel erziehen wollen, reagieren, wenn ihr Kind sich z.B. als Junge oder Mädchen sieht oder zu ihnen Mama und Papa sagt? Und wie sollen Eltern reagieren, wenn ihr Kind stereotype Rollenspiele spielt?

Gendersensibel zu erziehen heisst meines Erachtens nicht, dem Kind die Geschlechtsidentität absprechen zu müssen. In der Entwicklungspsychologie geht man davon aus, dass Kinder ab etwa drei Jahren sich selbst und andere Menschen um sie herum geschlechtlich verorten. Ab diesem Alter beginnen Kinder auch andere Menschen ihres eigenen Geschlechts zu bevorzugen und dadurch Wissen zu sammeln, wie man Dinge tut, die mit dem eigenen Geschlecht übereinstimmen. Das gehört also ein Stück weit zur kindlichen Entwicklung dazu.

Darum finde ich es auch nicht schlimm, wenn Kinder stereotype Rollenspiele spielen, die Tochter sich also mal wieder als Prinzessin verkleidet und der Sohn als Feuerwehrmann. Wertvoll wäre es, den Kindern immer wieder alternative Rollen aufzuzeigen. Das beginnt schon bei der Sprache: Wenn ich stets vom «Piloten» und der «Krankenschwester» spreche, prägen sich diese Bilder natürlich ein, vom kindlichen Rollenspiel bis hin zur Berufswahl.

Und wenn ein Kind sich geschlechtlich nicht verorten will oder kann, soll das auch so akzeptiert werden. Ob non-binär, trans, Junge oder Mädchen – Kinder sind so viel mehr als ihr Geschlecht und sollen in ihrer Individualität wahrgenommen werden. Ein Hauptpunkt in der Geschlechterdebatte ist meiner Meinung nach, Geschlechtlichkeit nicht zu werten: Wir müssen nicht verschiedene Geschlechtsidentitäten gegeneinander ausspielen, sondern akzeptieren, dass es zwar unterschiedliche Verortungen gibt, dass diese aber gleichwertig sind.

Das gilt auch für die Eltern: Wenn sich ein Elternteil selber binär verortet, also als Frau oder Mann, ist es total okay, wenn das Kind «Mama» oder «Papa» sagt. Wenn ein Elternteil sich aber nicht binär verortet, können ja alternative Kosenamen gefunden werden. Auch in Regenbogenfamilien, die nicht klassisch aus einer Mutter und einem Vater bestehen, werden zum Teil alternative Namen gebraucht, womit jede Person einen Platz in der Familie erhält. Schlussendlich geht es darum, dass wir authentisch mit unserer eigenen Identität umgehen und diese dem Kind vorleben – und gleichzeitig auch Alternativen aufzeigen, ohne das eine Lebensmodell gegen das andere auszuspielen.

In Ihrer Tätigkeit setzen Sie sich mit Rahmenbedingungen der Schule auseinander. Inwiefern ist der Ansatz der gendersensiblen Erziehung für Schulkinder förderlich, und wo sehen Sie mögliche Herausforderungen?

Pädagog*innen in der Schule wie auch Eltern sollten sensibel dafür sein, damit sich Kinder möglichst frei entlang ihrer Eigenschaften, Fähigkeiten und Interessen entfalten können – und nicht durch Stereotype eingeschränkt werden. Dafür ist wichtig, sich vor Augen zu halten: Es gibt nicht «den Jungen» oder «das Mädchen», vielmehr sind Kinder ein bunter Mix aus Eigenschaften, die zum Teil den stereotypen Ansichten entsprechen, einige aber auch nicht.

Gleichzeitig ist die Geschlechtszugehörigkeit eben doch relevant: Viel eher loben wir das Mädchen fürs herzige Kleidchen, den Jungen aber für seinen waghalsigen Sprung. In der Schule sind nach wie vor Lehrmittel in Verwendung, wo praktisch nur klassische Rollen abgebildet sind, beispielsweise geschlechterstereotype Berufe und Haushaltstätigkeiten oder traditionelle Familien mit Mutter und Vater. Neuere Lehrmittel sind sich dessen aber bewusst und versuchen, ein diverses Abbild zu geben, mit vielfältigen Geschlechterrollen und Familienbildern.

Ich finde das Bild der «kognitiven Landkarte» sehr gut, das aus der Berufswahlforschung kommt, aber auch für andere Lebensbereiche passt: Kleine Kinder haben noch offene Vorstellungen von der Welt und den verschiedensten Lebensmodellen, damit auch von Geschlechterrollen. Mit zunehmendem Alter wird diese «Landkarte im Kopf» immer stärker eingegrenzt, zum Beispiel, weil die Kinder gewisse Aspekte gar nicht erst mitbekommen und als existent erfahren, oder weil sie lernen, dass sie als «nicht normal» gelten. Wenn wir es schaffen, die kognitive Landkarte von Kindern möglichst lange möglichst offenzuhalten, so können sich Kinder und später auch Erwachsene viel eher gemäss ihren individuellen Interessen und Bedürfnissen verorten, ohne das Gefühl zu haben, das «passt» nicht zu ihnen.

Ziel der Mütter- und Väterberatung ist es, Eltern, Bezugspersonen und Kinder zu stärken. Was bedeutet das, wenn wir mit dem Fokus der gendersensiblen Erziehung auf diese Ziele schauen?

Kinder und ihre Bezugspersonen in Bezug auf Geschlecht zu stärken heisst für mich, das Kind in all seinen Facetten wahrzunehmen, wobei die Geschlechtsidentität zwar ein wichtiger Aspekt ist, aber längst nicht der einzige. Viel mehr lohnt es sich, den Fokus auf die Bedürfnisse und Interessen des Kindes zu legen – und zu akzeptieren, wenn es nicht den Geschlechtsstereotypen entspricht. Dasselbe gilt für Eltern und Bezugspersonen: Sie sollen sich als Mensch nicht verbiegen müssen, sondern ein authentisches Leben vorleben und doch stets auch Alternativen aufzeigen, damit die Kinder mit ganz verschiedenen Lebensmodellen in Berührung kommen und sich möglichst gesund auf ihrer persönlichen «kognitiven Landkarte» verorten können.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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