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Hart im nehmen

Zwischen Stadt und Land gibt es viele Unterschiede. So scheint zum Beispiel die Leidensfähigkeit der Bewohner grundlegend anders zu sein, wie die folgende Geschichte zeigt – natürlich ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit!

Hart im nehmen
Illustration: Daniel Müller

Von Toby Merkli

Es war kurz vor der Dämmerung: Auf einem weitläufigen Landwirtschaftsbetrieb, in einem abgelegenen Weiler ausserhalb von Embrach, wollte der Seniorchef zu fortgeschrittener Stunde die Ladung seines grossen Anhängers prüfen. Dazu schwang sich der über 80-Jährige, topfitte Rentner, dem die Landarbeit über die Jahre offensichtlich gut bekommen war, auf das Vorderrad seines Traktors. Sein Plan war es, von dort mit einem gekonnten Satz an die Seitenwand des Anhängers zu springen und über diese zur Ladung zu gelangen. Einfacher gesagt als getan! Der Mann verlor den Halt und stürzte aus rund drei Metern Höhe rückwärts auf den Kiesboden. Aufgrund der starken Schmerzen scheiterte sein Versuch, selber wieder aufzustehen. Er schaffte es lediglich in die Vierfüsslerposition. Wenigstens hatte sein Handy den Sturz unbeschadet überstanden und so konnte der verletzte Landwirt seinen Nachbarn anrufen: «Ich bin gestürzt und schaffe es nicht, alleine aufzustehen. Kannst du mir helfen?» Während der Verletzte davon ausging, dass das Ganze harmlos sei, erkannte der Nachbar die kritische Situation sofort und alarmierte umgehend den Rettungsdienst.

Als wir den Unfallort erreicht hatten, war die Polizei bereits vor Ort und wies uns im verwinkelten Gelände ein. Den Patienten fanden wir immer noch auf allen Vieren kniend vor. Ich staunte nicht schlecht, als er mir von seinem waghalsigen Manöver auf dem Traktor erzählte. Meine Frage, ob die Schmerzen sehr stark seien, verneinte er – nur beim Versuch aufzustehen zwicke es etwas in der Hüfte. Aufgrund der Fallhöhe und weiterer alarmierender Faktoren entschieden wir uns, den Mann zu immobilisieren. Mit vereinten Kräften drehten wir ihn behutsam auf den Rücken und direkt auf unser Rettungsbrett. Ein leises Stöhnen verriet mir, dass er mehr Schmerzen haben musste, als er zugeben wollte. Und tatsächlich erhärtete sich beim ersten Check der Verdacht auf einen Beckenbruch, der im schlimmsten Fall innere Blutungen verursachen kann. Sofort legten wir dem Patienten einen speziellen Hüftgurt an, der das Knochengerüst stabilisiert, es vor weiteren Verletzungen schützt und allfällige innere Blutungen verringert. Zudem verabreichte ich ihm über die Infusion ein hochwirksames Schmerzmittel. Wie es bei einer Beckenfraktur angezeigt ist, transportierten wir den Patienten schnell und dennoch schonungsvoll – unter kontinuierlicher Überwachung der Vitalwerte – in den Schockraum des Unispitals. Dort bestätigte sich unser Verdacht: Der rüstige Bauer hatte einen komplizierten, mehrfachen Beckenbruch inklusive Handgelenksfraktur erlitten.

Wenn ich heute einen Bagatelleinsatz habe, denke ich immer wieder an den tapferen Bauern. Vielleicht würde dem einen oder anderen Städter ein wenig Landluft auch ganz gut tun.

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