Global Navigation

«Eine Schlafstörung ist immer ernst zu nehmen»

Dr. med. Raffael Guggenheim arbeitet als Oberarzt m.e.V. an der Kinderklinik des Stadtspitals Triemli, ist Leiter des Schreibaby-Programmes, Ärztlicher Leiter der Kinderpraxis Friesenberg, Zürich und Dozent am Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich. Im Interview berichtet er aus seiner reichen Praxiserfahrung zum Thema Schlaf.

Wodurch kennzeichnet sich eine frühkindliche Schlafstörung?

Die Schlafarchitektur des Neugeborenen unterscheidet sich noch deutlich vom Schlaf des Kindes und des Erwachsenen. Wie alle Eltern wissen, schlafen die Kinder insgesamt länger, häufiger und nicht «am Stück». Auch haben sie noch einen eingeschränkten Tag-Nacht-Rhythmus und werden in der Nacht auch meistens noch gestillt. All dies kann gerade für Eltern mit eigener Schlafstörung oder längerem Schlafbedarf belastend sein. Häufig erleben daher Eltern bereits den normalen Säuglingsschlaf als gestört. Daher ist es in erster Linie wichtig, den Eltern die normale Schlafphysiologie des Kindes zu erklären. Wir benutzen dazu gerne auch das Buch «Babyjahre» von R. Largo, in welchem der Schlafablauf auch visuell sehr einleuchtend abgebildet ist. Wir führen dann ein 24h- Protokoll durch, in welchem wir sowohl Schlafzeit, Schlafort und auch Schlafsumme pro Tag aufzeichnen lassen.

Die eigentliche Schlafstörung teilen wir in eine Einschlaf- und eine Durchschlafstörung ein. Es gibt immer wieder Säuglinge, welche Mühe haben sanft in den Schlaf zu finden. Grund dazu kann eine vermehrte Sensibilisierung auf Reize oder auch eine ungenügende Selbstberuhigungsregulation sein. Beide können gut im Rahmen eines Gesprächs mit den Eltern unterschieden werden. Wir finden auch immer wieder Eltern mit einer sehr nahen Beziehung (ja sogar einer «Bindungsangst») mit ihren Neugeborenen. Diese Sensibilisierung auf Elternseite führt dann auch dazu, dass die Säuglinge sich kaum bewegen können, ohne dass die Eltern aufschrecken und beunruhigt sind. Die Ursachen dazu sind vielfältig. Eine gute Anamnese der Schwangerschaft, die Paarbeziehung betreffend aber auch in Bezug auf die Erfahrungen der Eltern mit Schlaf und Schlafstörung kann hier richtungsweisend sein. Die Durchschlafstörung zeigt sich mit dem zu häufigen, raschen und häufig auch schreienden Erwachen der Säuglinge sowohl am Tag als auch in der Nacht. Neben den bereits oben erwähnten Ursachen ist hier auch an körperlich bedingte Störungen zu denken. Wir denken hier an den Gastro-oesophagealen Reflux, Bauchbeschwerden unterschiedlicher Art sowie Schluckstörungen, seltener an neurologische Krankheiten wie z.B. das KISS-Syndrom, welches die Kinder durch schmerzhafte Bewegung im Schlaf zum Aufwachen triggern kann. Neben der bereits erwähnten guten Anamnese ist hier also auch eine sorgfältige klinische Untersuchung wichtig.

Wie äussert sich der Leidensdruck der Eltern?

Schlafstörungen und insbesondere der elterliche Schlafentzug führen zu einer raschen und anhaltenden Stresssituation in der Familie. Die Eltern sind verunsichert, befürchten eine körperliche Störung des Säuglings und sind selber aufgrund des Schlafentzugs gereizt und rasch erschöpft. Hier darf nicht vergessen werden, dass oftmals die Mütter bereits im letzten Trimenon Mühe mit dem Schlaf hatten und daher bereits mit etwas Schlafentzug in die erste Säuglingsphase starten. Wir erleben vor allem die grosse Verunsicherung und häufig auch ein Mangel an Einfühlsamkeit durch den Partner, die eigene Familie oder Freunde. Vielfach ist das Thema auch schambehaftet – jetzt, wo man sich das Baby so gewünscht hat, muss man doch durchbeissen können – oder? Eltern mit Säuglingen ohne Schlaf finden wir häufig am «Wägele», am «Herumtragen» – nächtliche Touren um den Dorfbrunnen sind keine Seltenheit. Nicht wenige Mütter berichten gar vom Sekundenschlaf beim Spazieren mit teils gefährdenden Folgen, wie z.B. in Wände laufen oder einfach sich auf der Strasse wiederfinden.  Einige Eltern trauen sich aber gar nicht mehr heraus, sie sind zu erschöpft, bleiben den ganzen Tag im Pyjama, haben keinen eigenen Essrhythmus mehr... aus der Schlafregulationsstörung des Kinds ist dann eine Regulationsstörung der Familie entstanden.

Wann ist es ratsam sich Hilfe zu holen?

Eine Schlafstörung ist immer ernst zu nehmen! Es lohnt sich diese früh selbst wahrzunehmen und auch entsprechend Hilfe zu holen. Die oben beschriebenen Folgen sind einerseits sehr belastend andererseits auch gefährlich. Daher sehen wir bei jeder Schlafveränderung, welche von den Eltern als Störung wahrgenommen wird, Grund für eine Frühintervention. In der Schweiz haben wir dazu ein ausgezeichnetes Betreuungsnetz. Die Eltern sind zunächst durch Hebammen, dann durch Mütter- und Väterberaterinnen vor Ort begleitet. Auch die kinderärztlichen Untersuchungen eignen sich dazu, das Problem anzusprechen. Es gibt auch diverse geschulte Fachkräfte mit pflegerischem, pädagogischem und psychologischen Hintergrund, welche Sprechstunden für Schlaf- und Regulationsstörungen anbieten. Wir empfehlen die frühzeitige Intervention, weil dadurch die Energien der Eltern und des Kinds geschont und die Kräfte für einen positiven Aufbau der Beziehung eingesetzt werden können. Ebenso können neben den körperlichen auch die psychosozialen Belastungsfaktoren für Familie und Kind frühzeitig realisiert und entsprechend angesprochen werden.

Was tun bei älteren Kindern mit Ein- und Durchschlafthemen?

Auch diese Kinder belasten den Familienalltag oder besser die Nacht. Hier gibt es unterschiedliche Gründe, wie Gewöhnung an den Schoppen, an eine bestimmte Schlafsituation, aber auch Parasomnien, wie z.B. den Nachtschreck (Pavor nocturnus). Wiederum lohnt es sich die Normalität zu kennen und diese in Bezug zur Familienrealität zu setzen. Häufig reicht das bereits zu einer deutlichen Entspannung der Situation. Eltern vergessen häufig, dass die Mütter-und Väterberatung auch für Kinder bis zum Kindergartenalter zuständig ist und hier tolle und unentgeltliche Hilfe leisten kann. Sonst lohnt sich auch ein Besuch beim Kinderarzt und bei schwerwiegenderen Regulationsstörungen eine Schlafabklärung im Kinderspital.

Schlafberatung

Haben Sie und Ihr Kind schlaflose Nächte? Wir bieten gerne eine Schlafberatung an. Hier finden Sie unsere Kontaktdaten.  

Weitere Informationen