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Mehrsprachigkeit als Chance

Prof. Dr. Dieter Isler von der Pädagogischen Hochschule Thurgau hat in einem Gespräch die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für Kinder erläutert.

Wie gehen Kinder mit Mehrsprachigkeit um?

Herr Isler erklärt, dass man unterscheiden müsse, ob Kinder bereits in einem mehrsprachigen Familienumfeld aufwachsen, oder ob sie zum Beispiel durch einen Kita- oder Kindergarteneintritt zum ersten Mal einer anderen Sprache als der Familiensprache begegnen. Bei einem mehrsprachigen Familienumfeld seien die Kinder bereits damit vertraut, dass sie auf unterschiedliche Sprachen treffen. Dagegen könne es für ein Kind, welches nicht in einem mehrsprachigen Familienumfeld aufgewachsen sei, verunsichernd sein, wenn es erstmals mit einer neuen, noch unvertrauten Sprache konfrontiert sei.

Kleinkinder erlernen Sprachen nicht wie Erwachsene. Sie legen einzelne Sprachen nicht systematisch in verschiedenen Schubladen ab, und dann auf die jeweilige Sprachschublade zuzugreifen. «Ein Kind will sich mitteilen und nimmt die Ausdrucksmittel, welche es gerade antrifft, zur Hilfe. Sie können aus einer oder auch mehreren Sprachen stammen», erklärt Herr Isler. Dass es zu Vermischungen von Wörtern und Grammatik der verschiedenen Sprachen komme, dass das Kind im Gespräch zwischen den Sprachen wechsle oder in einer anderen Sprache antworte, als es angesprochen werde, sei somit ganz normal.

Herrn Islers Plädoyer an die Eltern lautet: «Trauen Sie sich als Eltern auch zwei unterschiedliche Sprachen mit Ihrem Kind zu sprechen, wenn Sie eine andere Erstsprache sprechen, als Ihr Partner/Ihre Partnerin. Wichtig ist, dass Sie in Ihrer stärksten Sprache mit ihrem Kind kommunizieren. Dann können Sie sich so genau, ausdrucksstark und emotional wie möglich mit Ihrem Kind austauschen.» Das ist für den Spracherwerb entscheidend.

Wie können Eltern ihre Kinder beim Spracherwerb unterstützen?

Eltern können ihre Kinder beim Spracherwerb unterstützen, indem sie viel mit ihnen sprechen und auf ihre Themen eingehen. Den Kindern soll Raum gegeben werden, etwas zu erzählen. Man sollte sich mit seinem Kind nicht nur über konkrete Dinge austauschen, sondern mit dem Kind auch über seine Gedanken, seine Erlebniswelt und über Geschichten sprechen. Über etwas zu sprechen, was man nicht direkt sieht, sei herausfordernd, aber auch interessant für die Kinder. An dieser Stelle weist Herr Isler auf das Projekt «Kinder bis 4» (www.kinder-4.ch) hin: Hier finden Eltern, Spielgruppenleitende und Kita-Mitarbeitende viele Videobeispiele für die Sprachförderung im Alltag.

Auch sei es wichtig, dass Kinder mit anderen Kindern zusammengebracht werden. Kinder können voneinander lernen und auf einer anderen Ebene miteinander kommunizieren, als sie es mit Erwachsenen tun.

In der heutigen Zeit sei es normal, dass verschiedene Medien zu unserem Alltag gehören. Eltern sollten sich nicht gegen die (digitale) Medienwelt verschliessen, sondern diese mit dem Kind gemeinsam erkunden und ihnen einen gesunden und kritischen Medienkonsum vorleben.

Ein Kind benötige keine gezielten Trainings- oder Sprachlektionen, um eine oder mehrere Sprachen zu erlernen. Es sei wichtig, sich mit dem Kind auszutauschen und dabei auch das Argumentieren nicht zu scheuen.

Sind mehrsprachige Kitas sinnvoll?

«Wenn das Didaktische wichtiger ist, als das natürliche Kommunizieren mit dem Kind, tut man dem Kind keinen Gefallen», meint Herr Isler. Darum ist es wichtig, dass in der Kita und im Kindergarten der Fokus auf dem Gelingen der Alltagskommunikation liegt und nicht auf dem Sprachtraining. Es sei aber etwas anderes, wenn die Kinder zum Beispiel von einer französisch sprechenden Nanny oder Erzieherin betreut werden, welche mit dem Kind Französisch spricht, es umsorgt und ihm Aufmerksamkeit schenkt. So können BetreuerInnen im natürlichen Umgang mit dem Kind zum Sprachvorbild werden.

Auch wenn sich eine Kita an eine bestimmte Zielgruppe zum Beispiel an englischsprachige Expats, richtet, kann es durchaus Sinn machen, wenn die Kinder von Englisch und Deutsch sprechendem Personal betreut werden, solange die Betreuer*innen in ihrer stärksten Sprache mit den Kindern natürlich kommunizieren.

Kritisch sei es, wenn sich eine Kita auf die Fahne schreibe, den Kindern eine Fremdsprache (z.B. Englisch) beizubringen. Zu einer natürlichen Alltagskommunikation gehören nicht nur Gespräche zwischen Kindern und der Betreuungsperson, sondern auch die Kommunikation unter den Kindern. Eine Kita könne von den Kindern nicht erwarten, untereinander eine bestimmte Sprache zu sprechen. Auch sei es nicht zielführend, wenn BetreuerInnen nicht in ihrer stärksten Sprache mit den Kindern kommunizieren würden. So lege man dem Betreuungspersonal und den Kindern «sprachliche Fesseln» an. Eine Geschichte, welche in einer Fremdsprache erzählt werde, werde so zum Beispiel viel weniger lebendig, als wenn sie in der stärksten Sprache erzählt werde. Die Sprachen der Kinder sollen in der Kita und im Kindergarten aber sichtbar sein und gewürdigt werden, denn Mehrsprachigkeit ist kein Problem, sondern eine Chance.

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