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Gefahrgutunfall auf der Autobahn: Ein langer Einsatz für die Rettungskräfte

Ein Gefahrguttransporter fährt am 5. Oktober 2022 vom Kanton Bern nach St. Gallen, als ein feiner Haarriss in einem Behälter dazu führt, dass Natronlauge ausläuft. Ob ein Bremsmanöver oder eine abrupte Lenkbewegung die Ursache war, ist bis heute nicht geklärt.

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Gefahrguttransporter auf dem Rastplatz Büsisee Süd.

Mitten auf einer Transportfahrt wird im Anhänger eines Gefahrguttransporters ein IBC (Intermediate Bulk Container, zu Deutsch: Grosspackmittel, umgangssprachlich: Gittertank) mit rund 650 Liter Natronlauge beschädigt. Durch einen feinen Haarriss im unteren Drittel des Behälters tröpfelt Natronlauge heraus und läuft am Anhänger herunter Richtung Bremsschläuche. Dort zerfrisst die Lauge die Kupplungen aus Aluminium. Im Gubristtunnel bemerkt der Fahrer plötzlich einen Druckabfall im Bremssystem des Anhängers. Er fährt nach dem Tunnel auf den Rastplatz Büsisee Süd, steigt aus und sieht, dass aus der Stirnseite des Anhängers eine Flüssigkeit tropft. Der Fahrer kontaktiert sofort den Feuerwehrnotruf 118.

Die Einsatzleitzentrale von SRZ alarmiert um 18.32 Uhr den Chemiezug der Berufsfeuerwehr von SRZ. Via Seebahn – Hardbrücke – Rosengartenstrasse – Bucheggplatz – Wehntalerstrasse fährt der Konvoi in Zürich-Affoltern auf die A1 in Richtung St. Gallen und hält vor dem Rastplatz Büsisee Süd an. Der Rettungsdienst des Spitals Limmattal ist bereits vor Ort und bestätigt den Austritt von Natronlauge. Verletzte gibt es zum Glück keine.

Der Zugführer, der Einsatzleiter Berufsfeuerwehr, der diensthabende Pikettoffizier und der Chemiefachberater besprechen das weitere Vorgehen. Dabei orientieren sie sich an den sechs Phasen der Bewältigung von ABC- Ereignissen, wie sie im «Handbuch für ABC-Einsätze» beschrieben sind, das von der Feuerwehr Koordination Schweiz herausgegeben wird. Gemäss den Lieferpapieren befinden sich im Anhänger 6000 Kilo Natronlauge (50 %), 1000 Kilo Schwefelsäure (50 %) und 2500 Kilo feste NaOH-Plättchen (Ätznatron, 98–100 %). Da nicht klar ist, wie viele und welche IBC beschädigt sind – angeblich sind es zwei, also insgesamt rund2000 Kilo Natronlauge – beschliessen die Verantwortlichen, in einer ersten Phase die intakten Gebinde und Behälter aus dem Anhänger auszuladen. Anschliessend soll die Natronlauge aus den havarierten IBC in einen intakten IBC (den sogenannten Reservisten) umgepumpt werden.

Reinigung des kontaminierten Anhängers

Die Natronlauge reagiert mit der Alumium-Ladefläche im Anhänger.

Zuletzt soll der kontaminierte Anhänger gereinigt werden. Die geplanten Arbeiten laufen an. Dabei kommt es zu einigen Überraschungen. Überraschung eins: Die bestellten Reservisten, die eine Privatfirma liefert, sind zwar leer, aber nicht sauber. Die Natronlauge, die in diese Reservisten gefüllt wird, ist anschliessend Sonderabfall. Überraschung zwei: Durch das Entladen der intakten Gebinde aus dem Anhänger nimmt der Druck der Querstange der Ladungssicherung auf den beschädigten IBC ab – der Riss ist entsprechend weniger «abgedichtet», der Natronaustritt wird grösser und führt schliesslich dazu, dass es zu einer Reaktion der Natronlauge mit der Aluminium-Ladefläche des Anhängers kommt. Dabei entstehen Wasserstoff und kondensierender Wasserdampf. Die Oberflächentemperatur der Ladefläche steigt auf rund 60 Grad Celsius an.

Räumung Rastplatz und Vergrösserung der Gefahrenzone

Schwerkraftentleerung über das Bodenventil des Havaristen in einen Reservisten.

In Absprache mit der Kantonspolizei wird deshalb umgehend der gesamte Rastplatz geräumt, damit die sogenannte Gefahrenzone vergrössert werden kann. Dritte Überraschung: Es ist nur ein IBC beschädigt. Ein aufwendiges Umpumpen ist deshalb nicht nötig. Die Einsatzkräfte können den Inhalt des beschädigten Behälters («Havarist») über sein Bodenventil von der Hebebühne des Anhängers aus mittels Schwerkraftentlastung in einen Reservisten entleeren.

Neutralisierung der kontaminierten Fläche

Reinigung des Anhängers mit Zitronensäure.

Nach der Entleerung des beschädigten IBC neutralisieren und reinigen die Einsatzkräfte alle kontaminierten Flächen in und um den Anhänger. Für die Neutralisierung setzen sie Zitronensäure ein. Es sind etwa 250 bis 300 Liter Natronlauge ausgelaufen – entsprechend werden gut 300 Liter Zitronensäure benötigt. Da diese Menge vor Ort nicht vorhanden ist, bringt ein Team der Berufsfeuerwehr Flughafen mit einem Materialtransportfahrzeug (MTF) einen weiteren IBC mit Zitronensäure. Anschliessend wird der Anhänger mithilfe der Zitronensäure neutralisiert und gereinigt. Das Abwasser läuft in eine Abwasserrinne, die in die Strassenabwasserbehandlungsanlage (SABA) Grütwisen mündet. Von dort würde das Schmutzwasser direkt in den Katzenbach weiterfliessen, weshalb die Einsatzleitung frühzeitig veranlasst, dass der Schieber der SABA geschlossen wird – doch Überraschung vier: Weder die BF noch das Tiefbauamt des Nationalen Strassenunterhalts (NSU) haben einen Schlüssel dabei, mit dem der Schieber geschlossen werden kann. Ein Mitarbeiter des NSU macht sich auf den Weg, um den Schlüssel zu holen, der sich im Werkhof des NSU in Urdorf befindet.

Säuberung via Dekontaminationsstelle

Die Einsatzkräfte werden gesäubert.

Ein Spezialfahrzeug kommt auf Platz und schleppt den beschädigten und grob gereinigten Anhänger ab. Anschliessend putzt ein Flächenreinigungsfahrzeug die verunreinigte Fläche auf dem Rastplatz Büsisee Süd, und alle Einsatzkräfte sowie das Einsatzmaterial werden via Dekontaminationsstelle gesäubert. Diese Arbeit erfordert höchste Konzentration von den Einsatzkräften, die schon seit rund sieben Stunden im Einsatz stehen. Bei der Säuberung bemerken die Feuerwehrleute, dass das Material und die persönliche Schutzausrüstung zum Teil so stark angegriffen wurden, dass sie nicht mehr gereinigt werden können. Gegen 2 Uhr morgens treffen die letzten Einsatzkräfte wieder auf der Wache Süd ein und können sich ein paar Stunden ausruhen. Für die Reinigungsarbeiten in der Wache Süd sind am Folgetag noch einmal über dreissig Arbeitsstunden nötig.

Der Gefahrguteinsatz auf dem Rastplatz Büsisee Süd zeigt: Chemiewehreinsätze können sehr aufwendig sein. Und: Mit Chemie ist nicht zu spassen. Sicherheit und Gesundheit der Einsatzkräfte haben daher immer oberste Priorität.

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