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Hermann Hallers Frauenfiguren: Ein Einordnungsversuch

Von Irene Grillo (Kuratorin Atelier Hermann Haller, Zürich)

Meine erste, unerwartete Begegnung mit dem Atelier Hermann Haller liegt 13 Jahre zurück. Damals hatte ich gerade mein Philosophiestudium in Venedig abgeschlossen und stand kurz davor, eine Weiterbildung zur Kuratorin an der Zürcher Hochschule der Künste zu beginnen. Auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung wanderte ich voller Hoffnung und Naivität durch die mir noch unbekannte Stadt Zürich und entdeckte am rechten Seeufer, neben dem farbig auffallenden Pavillon Le Corbusier einen schlichten, grauen Holzbau mit einladender Veranda. Es war Winter und das Atelier Hermann Haller befand sich im Winterschlaf. Daher konnte man den Bau, über den ich später lernte, dass er das einzige und letzte erhaltene Zeugnis der Bauhausarchitektur aus Holz in Europa ist, nur von aussen betrachten. Weder erahnte ich die wunderschönen Räumlichkeiten, die das Innenleben dieses Holzhauses ausmachen, noch die zahlreichen Skulpturen, die seit bald 100 Jahren hier aufbewahrt werden. Dennoch rief diese erste Begegnung ein unterschwelliges Interesse für das entdeckte Gebäude und dessen Schöpfer hervor.

Athene Galiciadis konterkariert Hallers Frauenfiguren mit feiner Ironie.

Vor einem Jahr erhielt ich den Auftrag von der Stadt Zürich, das Ausstellungsprogramm des Ateliers Hermann Haller für das Jahr 2020 zu gestalten. Inzwischen waren mir der Name des Schweizer Plastikers, seine Kunstwerke im öffentlichen Raum sowie die lichtdurchfluteten Atelierräume an der Höschgasse, deren Ausstellungsprogramm ich neugierig verfolgte, gut bekannt. Von 2013 bis 2016 gastierten hier Gegenwartskünstler*innen wie Esther Kempf, oder Michael Meier und Rico Scagliola, die ortsspezifische Interventionen im Spannungsfeld um Hallers Werk präsentierten. Seit 2017 fanden Gruppenausstellungen mit thematischer Ausrichtung statt, in denen sich Künstler*innen facettenreich mit Inhalten und Räumlichkeiten auseinandersetzten. Zu nennen ist die performative Arbeit «Das Geheimnis der Sonnenanbeterin» von Julia Geröcs und Gabriel Studerus, die 2017 für die Ausstellung «Bewegte Körper» produziert wurde und eigenwillige Verbindungen zwischen Hallers Werk und dem Ausdruckstanz als Teil der Reformbewegung auf dem Monte Verità aufzeigte, oder die Arbeit «27 Sockelzeichnungen» von Yves Netzhammer, die in der Ausstellung «Catwalk» vom vergangen Jahr ganz neue Perspektiven auf Hallers Figuren eröffnete und dazu einlud, über die Sockel als einst unverzichtbare Ausstellungselemente nachzudenken.

Unbehagen thematisieren

Meine Meinung zum Werk des Künstlers, das durch eine nahezu obsessive Auseinandersetzung mit der Darstellbarkeit des weiblichen Körpers gekennzeichnet ist, war jedoch zwiespältig, und zahlreich waren die unbeantworteten Fragen, die in Bezug auf Hallers Schaffen auftauchten. Als Kuratorin beschloss ich, diesem Unbehagen nachzugehen und es zu thematisieren. Das war der Ausgangspunkt für die diesjährige Ausstellung «Wenn du geredet hättest», deren Titel auf das Buch «Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen» von Christine Brückner zurückgeht.

Hermann Hallers mädchenhaft aussehende, makellos schön geformte weibliche Körper wirken unmittelbar realistisch. Sie hinterlassen dennoch den Eindruck stark idealisierter und fast stereotyper Figuren, die keine realen Körper zeigen. Diese Mischung aus Wirklichkeitstreue und positiv konnotiertem Idealismus ist charakteristisch für jene konservative Kunstrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, zu der auch Hallers Gesamtwerk gehört. Sie ist aus heutiger Sicht deswegen problematisch, weil sie hauptsächlich die rein ästhetischen Aspekte von Weiblichkeit betont, ohne deren intellektuelle, soziale und gesellschaftliche Dimensionen zu berücksichtigen und wirft Fragen auf, einerseits in Bezug auf das Bild des weiblichen Körpers, das durch solche Darstellungen vermittelt wird, anderseits auf die damit der Frau zugeschriebene Rolle in der Gesellschaft.

Balance von Körper und Geist: Lisa Biedlingmaier ergänzt Hallers rein äusserliches Frauenbildnis.

In einer Zeit angespannter politischer und sozialer Verhältnisse zu Beginn des letzten Jahrhunderts wird dieser ästhetisierenden Haltung eine kompensatorische Funktion zugeschrieben. Dem belastenden und beschwerlichen Alltag setzen die meistens für idyllische Parkanlagen entworfenen Frauenfiguren einen Moment des Innehaltens entgegen, indem sie durch die Vermittlung von positiv aufgeladenen Gefühlen wie Harmonie, Sorglosigkeit, Anmut und innerer Ruhe ein Entkommen aus der Realität ermöglichen. Die Nacktheit der Abbildungen betont die angestrebte Idealisierung des weiblichen Körpers zusätzlich, wobei eine erotische Komponente unübersehbar ist. Nudität und Erotik sind hier der Ausdruck eines neuen Körper- und Lebensgefühls, das aus den verschiedenen sozialen Reformbewegungen um die Wende des 20. Jahrhunderts hervorgeht. Neben der Naturheilkunde, der Freikörperkultur und der Turnbewegung entsteht, auch als Teil dieser Bewegung, der Ausdruckstanz, von dem sich Haller zu den Stellungen unterschiedlicher Plastiken inspirieren lässt.

Die #meToo-Bewegung, der Frauenstreik und die durch sie entfachten Debatten zur Geschlechtergleichstellung und Frauenquote in den Arbeitswelten haben der stark von Männern dominierten Kunstbranche unbequeme Fragen gestellt. Neben mehr Präsenz und Wahrnehmbarkeit von Künstlerinnen in den musealen Institutionen und im Kunstmarkt fordern sie eine kritischere Auseinandersetzung mit kunsthistorischen Positionen, die als Paradebeispiele jener patriarchal geprägten Gesellschaft gelten und die es zu überwinden gilt. Dazu gehört zu seiner Zeit auch Hermann Haller, der 1933 den Ehrendoktortitel der Universität Zürich erhält, 1934 die Schweiz an der Biennale in Venedig vertritt und 1949, im Jahr vor seinem Tod, noch mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich geehrt wird. Bis zu seinem Lebensende erhält er prominente öffentliche Aufträge.

Weibliche Perspektiven

In der diesjährigen Ausstellung «Wenn du geredet hättest» werden dem Werk des Plastikers die Arbeiten von fünf Künstlerinnen gegenübergestellt, die sich aus gegenwärtigen, weiblichen Perspektiven der Thematik der Darstellbarkeit des Frauenkörpers nähern. Neben Leihgaben aus der Kunstsammlung der Stadt Zürich wurden hierfür unterschiedliche neue Werke produziert.

Pippilotti Rists «Mutaflor» tangiert Hallers Darstellungen.

Ganz im Sinne von Pipilotti Rists Videoinstallation «Mutaflor» (1996), die von der Analogie zwischen dem Verdauen von Nahrung und von seelischen Eindrücken handelt und von einer Künstlerin erschaffen wurde, die die Darstellung des Frauenkörpers in der Kunst ohnehin grundsätzlich hinterfragt und revolutioniert, fordert und fördert die Ausstellung eine neue Einordnung von Hallers Werk. Angestrebt ist eine konstruktive, dialogische Form der Kritik, damit Besuchende gerade im Spannungsfeld zwischen der historischen Position und den gegenwärtigen Ausdrucksformen ihre eigene Sicht auf Hallers Werk finden können. 

Mittels der Präsentation einer Audioinstallation einer fiktiven Konversation zwischen den Frauenfiguren von Hermann Haller verleiht die Autorin Renata Burckhardt den anonymisierten Körpern Namen und Stimmen. Sie erzählen als weibliches Kollektiv die Geschichte eines vergangenen Jahrhunderts, das sie als stille Zeuginnen miterlebt haben, ohne es aber mitgestalten zu dürfen.

Renata Burckhard lässt Hallers Frauen sprechen.

Eine Anspielung auf die zeitliche und historische Komponente ist auch in den Arbeiten von Athene Galiciadis erkennbar. Indem die Künstlerin birnenförmige Skulpturen den weiblichen Figuren von Hermann Haller gegenüberstellt, lotet sie das kulturhistorische Bezugssystem von Frauenkörpern als Gefässen, die für Fruchtbarkeit stehen, sehr subtil und ironisch neu aus. Während Hallers Körper in Richtung Himmel ragen, erkennt man an der Form der farbigen Plastiken von Galiciadis den unausweichlichen Einfluss der Schwerkraft und deren erdgebundene Zugehörigkeit. 

Lisa Biedlingmaiers Arbeiten ergänzen den rein äusserlichen Blick auf das Frausein mit einer innerlichen Sicht. Inspiriert durch die orientalische Knotentechnik Makramee thematisieren ihre Arbeiten die komplexe und oft prekäre Balance zwischen Körper und Geist und versinnbildlichen psychologische oder emotionale Zustände, die die Künstlerin bewusst zwischen Hallers Frauenfiguren platziert. 

Einen wortwörtlichen Bruch mit Hallers ästhetisierender Haltung schafft die Präsentation von Loredana Sperinis Arbeiten, die sich explizit mit dem Zerbrechlichen und Unbeständigen des menschlichen Lebens beschäftigen. In einem der einstigen Werkzeugregale im Atelier zeigt Sperini skulpturale Skizzen, Bronzegüsse und Büsten sowie vollendete, aber auch unvollendete Arbeiten unprätentiös nebeneinander und setzt gerade dadurch ganz neue und eigenwillige Akzente im Hinblick auf Hallers Werk. 

Die Dringlichkeit einer neuen Einordnung des einst bekanntesten Schweizer Plastikers kann als Zeichen für seine Aktualität beurteilt werden und wird auch in Bezug auf seine Produktion für den öffentlichen Raum beobachtet. Auf seine Weise griff der Zürcher Künstler Harald Naegeli die aktuell aufgeflammte, schon länger anhaltende Kontroverse über Denkmäler dadurch auf, dass er während des Corona-Lockdown auf Hermann Hallers prominente Reiterfigur des ersten und schon zu Lebzeiten umstrittenen Zürcher Bürgermeisters Hans Waldmann am Stadthausquai eine Figur aus seinem Zyklus «Totentanz» sprayte. Dieser unautorisierte und dennoch bemerkenswerte Kommentar zum Werk Hallers zeigt einmal mehr, dass letzteres gerade im Spannungsverhältnis von Historizität und Aktualität neue Lebendigkeit und Gegenwartsbezogenheit gewinnen kann. Diese genauer zu untersuchen und zu hinterfragen, versucht die aktuelle Ausstellung.

Fotos: Zsigmond Toth/Atelier Hermann Haller

«Wenn Du geredet hättest»
Ausstellung bis 18. Oktober 2020
Freitag/Samstag/Sonntag 12­-18 Uhr
Eintritt frei

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