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Fokus Ukraine

Alina Kopytsia, «Hope», aus der Serie «Pillow. Book», 2022.

Der Krieg in der Ukraine zerstört viele Gewissheiten – bei uns, vor allem aber bei den Menschen in der Ukraine. Die aus der Ukraine stammende und schon länger in Zürich lebende Künstlerin Alina Kopytsia postete auf Instagram (@alinka_nealinka) unter dem unmittelbaren Eindruck des brutalen russischen Überfalls entstandene Kunstwerke, mit denen sie ihren Emotionen Ausdruck verlieh. Kleine Kissen, aus Stoffresten in den Farben der ukrainischen Flagge genäht, darauf gestickte Stoffbuchstaben, die jeweils ihren aktuellen Gemütszustand festhalten: «Hope», «Love», «Crying», «Fear», «Panic», «Optimism», «Shock». Auf Instagram kamen kurze, chronikartige Texte dazu. 

Ich entdeckte die Serie, die inzwischen den Titel «Pillow. Book» trägt, und fragte die Künstlerin, ob sie etwas zur aktuellen Situation aus ihrer Perspektive schreiben wolle. Alina Kopytsia hat in Zürich an der ZHdK studiert. Auf Vorschlag der Kommission für Bildende Kunst sind einige Werke von ihr für die Kunstsammlung der Stadt Zürich erworben worden, namentlich «Mistress in Switzerland» – eine Textilarbeit zur Sexarbeit in der Schweiz. Die Künstlerin nahm meine Einladung für eine «Carte Blanche» spontan an. So entstand der nachfolgende Artikel von Alina Kopytsia, der einen persönlichen Blick auf die zeitgenössische ukrainische Kunstszene wirft.    Barbara Basting

Widerstand mit künstlerischen Mitteln gegen die Besetzung der Krim und die Invasion der Ukraine.
Bild links: Nicht autorisierte Aufführung von Maria Kulikovska während der Eröffnung von Manifesta 10 in St. Petersburg, Russland, 1. Juli 2014. Foto Dana Kosmina.
Bild rechts: Symbolische Aktion zur Solidarität mit Mariupol und der Ukraine, am 6. April 2022 vor dem Bundestag in Berlin, organisiert von Vitsche Berlin. Foto Daria Prydybailo.

Wenn Kunsträume zu Gefängnissen werden – und Bunker zu Galerien

Die ukrainische Kunstszene erhält nur wenig Unterstützung durch den Staat. Der lokale Kunstmarkt steckt noch in den Anfängen. Aber Künstler*innen und Kulturschaffende sind sehr aktiv und schaffen starke Werke. Es ist mir daher nicht leichtgefallen, Künstlerinnen und Künstler für diesen Artikel auszuwählen. Ich beschloss, über jene zu schreiben, die ich persönlich kenne und deren künstlerische und politische Aktivitäten ich seit mehreren Jahren verfolge. Ausserdem sind sie auf die eine oder andere Weise mit der Schweiz verbunden.

Ich verliess das Haus meiner Familie vor sieben Jahren. Aber es gab dort immer einen Ort, an den ich zurückkommen konnte. Als meine Familie vor wenigen Wochen floh, bat ich meine Mutter, einige Fotos von meinem Zimmer zu machen. Ich wusste nicht, ob unser Haus von den russischen Truppen zerstört, ausgeraubt oder besetzt werden würde. Ich will nicht daran denken. Ich fühle mich völlig hilflos. Ich kann nur hoffen, dass der Krieg bald vorbei ist und ich meine Heimat in der Ukraine jederzeit wieder besuchen kann.

Zaborona: Ukraine aus der Innenperspektive.

Kateryna Sergatskova

Der Krieg begann 2014, als die russischen Kampftruppen auf der Krim auftauchten. Es wurde gefährlich, auf der Krim zu bleiben, wenn man aktiv eine pro-ukrainische Haltung vertrat. Menschen mussten ihre Bleibe verlassen. Kateryna Sergatskova gehörte zu ihnen. Sie lebte seit 2008 in Simferopol, nachdem sie Russland als Regimegegnerin verlassen hatte. Sie führte ein grossartiges offenes Haus, wo sich Künstler*innen, Musiker*innen und andere kreativ tätige Menschen trafen und zusammenarbeiteten. Ich hatte das Glück, diesen wunderbaren Ort kennenzulernen, während ich Upcycling-Workshops und andere Initiativen besuchte, die das Team BIG IDEA 2012 entwickelte.

Kateryna ist eine talentierte und zurecht mit Preisen ausgezeichnete Journalistin. Zusammen mit Roman Stepanovych organisierte sie 2018 die Plattform Zaborona. Dieses Medium existiert dank der Wertschätzung und den Spenden der Leserschaft. Es bringt Berichte über kulturelle Veranstaltungen und deren Teilnehmer*innen, journalistische Recherchen und Comics. Ich empfehle diese Plattform wärmstens, wenn man sich für die Ukraine aus einer Innenperspektive interessiert.
Zaborona

Kunstraum Galerie 33: Galerie und Schutzraum für zeitgenössische Künstler*innen.

Maria Kulikovska

Der Verlust des Wohnorts, der Heimat, taucht immer wieder in den Werken der Multimediakünstlerin, Architektin, Aktionistin-Performerin, Forscherin und Dozentin Maria Kulikovska auf. Sie ist in Kerch (Krim) geboren und erhielt am 19. März 2014 den Status einer «displaced person». Die Performance und soziale Skulptur «Raft CrimeA» wurde gemacht, um kollektiv an die Empfindungen und Verzweiflung der Menschen zu erinnern, die aufgrund der Umstände umziehen oder fliehen mussten und die ihre Identität verloren hatten. Im Rahmen dieses Projekts führte Maria zehn Performances und mehrere Ausstellungen durch, darüber hinaus eine Lecture-Performance in der Ukraine und in Europa. Sie war an einigen internationalen Kunstprojekten beteiligt, unter anderem 2012 als Gast der Künstlerresidenz AKKU in Uster, wo ich sie kennenlernte. Sie lebte und studierte in Schweden und hätte dort auch bleiben können, entschied sich aber dafür, sich in der Ukraine niederzulassen. Seit 2019 führen sie und ihr Partner Uleg Vinnichenko den internationalen, genderneutralen Kunstraum GARAGE33 als Galerie und Schutzraum für zeitgenössische Künstler*innen aus Konfliktgebieten. Derzeit hält sich Maria mit ihrer neugeborenen Tochter an einem sicheren Ort auf, während ihr Partner und Mann in Kiew geblieben ist.

Eines der bekanntesten Werke von Maria heisst «Armee der Klone»; es geht dabei um exakte Kopien ihres Körpers. Manche davon hat sie aus Seife geformt. Dieses Material hat die gleiche Struktur wie der menschliche Körper und wird für ballistische Tests gebraucht. Mehrere dieser Klone wurden vor dem Kunstzentrum IZOLYATSIA in Donetsk ausgestellt. IZOLYATSIA war immer darauf ausgerichtet, das Lokale mit dem Nationalen und Globalen zu verbinden. Als das russische Militär Donetsk besetzte und im Donbass die autonome Region DNR ausgerufen wurde, musste das Team von IZOLYATSIA fliehen, nachdem es mit Waffengewalt bedroht worden war. Das Team liess alles zurück: Kunst, die Büroausstattung, Archive. Es zog nach Kiew, eröffnete dort einen neuen Ort, der denselben Idealen verpflichtet war, und setzte seine Aktivitäten fort. Inzwischen ist IZOLYATSIA in Donetsk in ein Gefängnis umgewandelt worden, wo seit dem Beginn des Konflikts Menschen illegal inhaftiert, misshandelt und gefoltert werden. Marias Seifenklone wurden vom Militär zerschossen. Seit dem 1. März 2022 konzentriert sich IZOLYATSIA auf humanitäre Hilfe und Unterstützung von Ukrainer*innen in Not.
Homepage Maria Kulikovska 
Kunstraum GARAGE33 
Izolyatsia 

Selbstporträt der Künstlerin Alevtina Kahidze, 14.2.2022, zehn Tage vor der russischen Invasion.

Alevtina Kahidze

Weggehen oder bleiben und sich weiterhin der Gefahr aussetzen? Lyudmila Andreyevna, die Mutter der Künstlerin Alevtina Kahidze, entschied sich zu bleiben. Sie lebte in einem kleinen Dorf in der Region Donezk. Alevtina stand fast täglich in telefonischem Kontakt mit ihr. Oft hatte ihre Mutter nur am Friedhof Netzzugang. Dort war es auch etwas ruhiger und man war den Bomben weniger direkt ausgesetzt. Alevtina zeichnete auf Grundlage dieser Anrufe weiterhin Comics. Ihre Heldin «Strawberry Andreyevna», nach dem Vorbild ihrer Mutter, ist eine mutige Frau, die aktiv gegen eine verfassungswidrige, selbstdeklarierte pro-russische Republik kämpft. Alevtina verband eine persönliche Geschichte ihrer Mutter und die umfassenden Probleme, mit denen «displaced persons» (verschleppte Personen) und Einwohner der Regionen Donezk und Luhansk zu kämpfen haben. Lyudmila Andreyevna starb im Januar letzten Jahres an einem Checkpoint zwischen der Ukraine und der selbstdeklarierten «Volksrepublik Donezk».

Alevtina schloss die Jan van Eyck- Akademie in den Niederlanden ab, war an zahlreichen internationalen Kunstprojekten beteiligt und erhielt Atelierstipendien. Irgendwann beschloss sie, einen Raum zur Verfügung zu stellen, in den Künstler*innen aus anderen Ländern kommen konnten, um gemeinsam an einer Geschichte des kleinen Dorfs Muzychi 26 Kilometer nördlich von Kiew zu arbeiten, wo sie und ihr Mann leben. Die Initiative trägt den Namen «The Muzychi Expanded History Project». Viele Künstler waren schon hier, unter anderem auch 2010 der angesehene Schweizer Künstler Roland Roos. Alevtina entschloss sich, zu Hause zu bleiben, selbst wenn dies gefährlich ist. Sie hilft ihren Nachbarn in Muzychi, die nicht fliehen können. Sie gibt Interviews und arbeitet weiterhin an Zeichnungen und Comics zum Krieg.
Homepage Alevtina Kahidze 

Die TU-Plattform zitiert aus der Korrespondenz zwischen Freud und Einstein: «Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.»

Diana Berg

Zweimal hat Diana Berg ihren Wohnsitz verloren. Das erste Mal wurde er gestohlen, das zweite Mal zerstört. Vor dem Krieg arbeitete Diana als Designerin in Donetsk. Sie war nicht an Politik interessiert. Als das Militär nach Donetsk kam, wurde Diana zu einer passionierten Aktivistin. Mit anderen zusammen organisierte sie unter der ukrainischen Flagge Protestaktionen mit Tausenden von Teilnehmenden. Recht schnell wurde klar, dass es zu gefährlich war, in Donetsk zu bleiben. Nachdem Diana erst in die westliche und zentrale Ukraine gereist war, beschloss sie, nach Mariupol zu ziehen. Sie rief die Plattform TU ins Leben, einen Kunstraum für junge Leute, Eintritt frei, permanent geöffnet für künstlerische Experimente aller Art.

Seit 2016 hat die Plattform TU mehr als hundert Künstler*innen und Musiker*innen eingeladen und auch die erste Künstlerresidenz der Stadt lanciert. Die Plattform steht für Menschen, die für die Bewältigung akuter Probleme neue Wege suchen, ob es sich um Gewalt, Homophobie, Diskriminierung von Behinderten, Umweltthemen oder die Misshandlung von Frauen handelt. Hier gab es die besten Parties; Leute aus der ganzen Ukraine wurden angezogen. Es ist unglaublich, wie viel eine engagierte Person verändern kann. Ich traf Diana 2020 in Zürich. Sie stellte ihre Initiative an der ART AT RISK-Tagung vor. Diana konnte Mariupol glücklicherweise verlassen, als das noch relativ leicht ging. Derzeit arbeitet das Team von TU von Lwiw/Lemberg aus. Viele ihrer Kolleg*innen und Freund*innen, unter ihnen auch Teenager, die zur Gemeinschaft gehören, leben noch unter der Besatzung. Die ganze Welt erstarrt in Schrecken angesichts der durch russische Truppen an der ukrainischen Zivilbevölkerung in Mariupol begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Plattform TU sammelt nun Geld. Es geht direkt an Menschen, die Mariupol verlassen müssen, sowie an den späteren Wiederaufbau. Diana informiert auf Instagram (@diana.berg.official) darüber, wer fliehen konnte und wer noch vermisst wird.
Plattform TU

Nikita Kadan: «Cheap Gas Cheap Blood» (auf Instagram, 17.3.2022).

Nikita Kadan

Der Künstler und Kurator Nikita Kadan bleibt in Kiew und arbeitet an neuen Werken, darunter «Cheap Gas Cheap Blood» und «The Shadow on the Ground». Er hat die kleine Gruppenausstellung «Тривога» (das ukrainische Wort bezeichnet zugleich ein Gefühl der Angst und ein Alarmsignal, wie etwa eine Luftschutz-Sirene) in der Voloshyn Gallery in Kiew organisiert, die ihm in den letzten Wochen als Bunker diente. Nikita Kadan hat in vielen internationalen Kunstmuseen ausgestellt. Das Kunsthaus Zürich hat ihn 2015 in der Gruppenausstellung «Die Zukunft der Geschichte» vorgestellt.
Homepage Nikita Kadan 

uforukraine: Gespräche mit Menschen vor Ort.

Marc Wilkins

Ich möchte diesen Beitrag gerne mit einer optimistischen Note abschliessen. Einer der Menschen, die mir helfen, zuversichtlich zu bleiben, ist der Filmregisseur und Kurator Marc Wilkins, den ich zufällig auf dem Flug von Zürich nach Kiew 2019 getroffen habe. 

Marc ist in der Schweiz geboren und hat die Schweizer Staatsbürgerschaft. Er reiste viel und lebte eine Zeit lang in New York und Berlin. Er hätte sich an jedem Ort der Welt niederlassen können und doch hat er Kiew als Ort zum Leben und Arbeiten gewählt. Er mag die Energie dieser Stadt, die Leidenschaftlichkeit ihrer Bewohner*innen. Zusammen mit Maria Lanko und Lisa German organisierte er 2018 eine Galerie. Sie wurde auf Anhieb ein beliebter Ort für die Menschen, um sich miteinander zu vernetzen, und war auch kommerziell erfolgreich. «The Naked Room» repräsentiert sowohl eine ältere wie auch eine jüngere Künstlergeneration. Ich bin stolz darauf, dort 2020 eine Einzelausstellung gezeigt zu haben. Derzeit lebt Marc mit seiner Frau in Lwiw/Lemberg. Er arbeitet als Freiwilliger, setzt sich für die Wahrnehmung der Ukraine ein, organisiert Wohltätigkeitsauktionen sowie Fundraising für Filme.
Auktion
Menschen vor Ort / Fundraising 
Homepage Marc Wilkins

Text: Alina Kopytsia
Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Basting
Homepage Alina Kopytsia

Die Verhältnisse in der Ukraine ändern sich täglich. Der vorliegende Text entstand Ende März, mit Ergänzungen bis 21.4.2022. Über die aktuelle Lage informieren die angegebenen Websites, insofern sie aufdatiert werden können.

Foto: Screenshots von den Websites der vorgestellten Künstler*innen und Kunsträume (6) // Alina Kopytsia (1), Dana Kosmina (1), Daria Prydybailo (1)

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