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Die «Textwerft» von Samuel Herzog

Karoline Schreiber, «Drawing Accounts, 2020–2023, Öl oder Bleistift» (l.) // Dominic Michel, «Emblems & Virtue, Spirits (series)» 2023 und fortlaufend, geschneidertes Kinderoutfit nach Rue Bennett aus der TV-Serie Euphoria, HBO, 2019, Mannequins, gesammelte Objekte, Emaille-Farbe (m.) // Eva Gadient, «Miami Beach, 2022», «Ohne Titel», 2022, «Ariadnefaden, 2023» (r.).

Den Besucher*innen der jährlichen Ausstellung der Kunststipendien wird eine Broschüre mit kurzen Texten zu den ausgestellten Kunstwerken zur Verfügung gestellt. Diese Texte sind ein Angebot der Kunstförderung, das die Auseinandersetzung mit den Werken erleichtert. Die Basis dafür sollen die Künstler*innen in Form einer kurzen Werkbeschreibung liefern. Unterstützend hat das Ressort Bildende Kunst zum wiederholten Mal eine professionelle Beratung und Unterstützung beim Abfassen dieser Begleittexte durch den Kunstkritiker und Publizisten Samuel Herzog angeboten. Für alle Künstler*innen steht Herzog während zweier Stunden zur Verfügung, stellt kritische Fragen zu den Texten und hilft je nach Bedarf bei der Formulierung. Was sind die typischen Schwierigkeiten beim Verfassen dieser Texte und was können die Texte zur Kunst leisten? Fragen an Samuel Herzog – und Antworten aus seinem Erfahrungsschatz.

Latefa Wiersch, «Original Features, El Hedi Ben Salem M’Barek Mohammed Mustafa», 2022, Installation, Wandschrift.

Barbara Basting (BB): Als wir die Unterstützung bei der Redaktion der Begleittexte erstmals anboten, gab es auch kritische Reaktionen seitens der Künstler*innen. Diese vertraten zum Teil die Auffassung, den Text zu ihren ausgestellten Werken sollten Dritte verfassen und nicht sie selber. In kuratierten Ausstellungen, für die die Kunstschaffenden von Kuratoren ausgewählt und eingeladen werden, ist dies meist auch der Fall. Wir hatten aber festgestellt, dass dies für unsere Stipendienausstellung angesichts der knappen Zeit mit den vorhandenen Ressourcen kaum umsetzbar ist. Daher kamen wir auf die Idee, Sie als Begleitung heranzuziehen. Inzwischen wird Ihr Angebot der «Textwerft» von den meisten beteiligten Künstler*innen gerne angenommen. Wie erklären Sie die Widerstände, die dennoch manchmal auftauchen?

Samuel Herzog (SH): Einerseits sind Künstler*innen heute aufgrund von Veränderungen im Kunstbetrieb immer öfter mit der Situation konfrontiert, dass sie Texte über ihre eigene Arbeit, ihre Intentionen, verfassen müssen. Sicherlich ist dies für viele Kunstschaffende eine schwierige Situation, denn schliesslich ist Text meistens nicht die Ausdrucksform ihrer Wahl. Das gilt auch für Künstler*innen, die mit Text arbeiten: Der Text als künstlerische Arbeit hat einen anderen Anspruch als ein Text über die eigene Motivation.

Jenny Rova, «Calling Philippe – Prove your love», 2021, Screenshots, Fotografie (l.) // Dieter Hall, Acht Porträts, Ôl auf Leinwand (r.).

BB: Manche Kunstschaffende empfinden es als Zumutung, quasi ihr eigenes Werk vermitteln zu müssen. Was spricht aus Ihrer Sicht dafür?

SH: Es ist auch eine Chance, eine neue Perspektive auf die eigene Arbeit einzunehmen. Das kann sich allenfalls sogar positiv auf das eigene künstlerische Schaffen auswirken. Es kann auch etwas Unbefriedigendes haben, die Gestaltung des Diskurses über die eigene Arbeit ausschliesslich anderen zu überlassen. Vielleicht kann es Teil einer zeitgenössischeren Auffassung des Künstler*innendaseins sein, sich da selber einzumischen.

BB: Worin kann die positive Wirkung bestehen?

SH: Ein Text über die Arbeit funktioniert ein wenig wie ein Spiegelkabinett, in dem das eigene Tun in verschiedenen Facetten, aber aus anderen Perspektiven, erscheint.

BB: Gibt es auch Grenzen dieser «Selbstinterpretation»? Welche Erfahrungen haben Sie diesbezüglich in den Gesprächen zu den Texten mit den Künstler*innen gemacht?

SH: Für mich ist die Arbeit an der Sprache explizit eine Arbeit an der Ausweitung dieser Grenzen. Schreibend haben wir die Möglichkeit, diese zu erweitern. Was uns dabei kontrolliert, ist die Aufgabe, verständlich zu sein. Das gilt meiner Meinung nach für Künstler*innen genauso wie für professionelle Autor*innen.

BB: Sie sprechen damit den «Vermittlungsanspruch» an, den es seitens des Publikums gibt. Besonders bei zeitgenössischer Kunst, die noch nicht gut eingeführt ist, wünschen viele eine Heranführung. Dies kann auch für Vermittelnde ziemlich anspruchsvoll sein. Woran liegt das?

SH: Ein erstes Problem besteht darin, dass man zunächst auch die Parameter vermitteln muss, an denen sich das Kunstwerk orientiert. Wenn zum Beispiel eine Person in ihrer Kunst über NFTs (d.h. «new fungible tokens») forscht, muss sie sowohl eine minimale Definition von NFT geben wie auch eine Vorstellung des Bildes, das die Künstler*in von dieser Technologie hat. Darüber hinaus muss versucht werden, die Natur des konkreten Eingriffs in diese Mechanik deutlich zu machen, ehe zu einer Interpretation der Arbeit angesetzt werden kann.

Sultan Çoban, «Last Lunch Summer 2004», 2023, Installation und Sound, 11 Min., Loop.

BB: Stichwort Interpretation: Wie weit darf die Interpretation gehen, gibt es hierfür auch Grenzen?

SH: Interpretieren heisst für mich, Argumente für bestimmte Sichtweisen, Blicke auf Kunstwerke zusammenzutragen. Je besser diese Argumente im Kunstwerk verankert sind oder aus diesem heraus entwickelt werden können, desto überzeugender und glaubwürdiger ist eine Interpretation. Philosophisch formuliert könnte man sagen, dass die Interpretation eines Kunstwerks ein konzentriertes Zwiegespräch mit demselben ist. Es geht darum, eine Beziehung zwischen sich und diesem Kunstwerk herzustellen.

BB: Das heisst, der ideale Begleittext ermutigt zu einem solchen Dialog?

SH: Ja, der ideale Saaltext befähigt die Betrachter*innen, selbst das Wort zu ergreifen oder neue Gedanken zu formulieren.

BB: Zugleich kann man beobachten, dass sehr viele Texte, die rund um die Kunst zu deren Vermittlung entstehen, vor allem mit Schlagwörtern und modischen Begriffen aufwarten. Diese scheinen gar nicht immer besonders spezifisch auf ein Kunstwerk bezogen, sondern im Gegenteil sehr allgemein oder manchmal auch sehr theoretisch und abgehoben. Was ist der Grund dafür?

SH: Dahinter steckt vielleicht die Hoffnung, dass eine gewisse Unverständlichkeit ein Anzeichen besonderer Tiefe sein könnte. Leider führen solche Texte aber einfach nur ins Bodenlose. Gleichzeitig besteht der verständliche Wunsch, eine Arbeit, wie auch immer sie beschaffen sein mag, an aktuelle Diskurse anzubinden, was über Schlagworte vermeintlich am einfachsten zu leisten ist.

BB: Sie haben selber schon sehr viele Ausstellungen besucht im Lauf der Jahre – was sind für Sie die grössten Ärgernisse bei Begleittexten?

SH: Oft sagen solche Begleittexte mehr über die intellektuellen Fähigkeiten ihrer Verfasser*innen aus als über die Arbeit, die sie zu begleiten vorgeben. Oft sind sie schlicht zu lang, die Verfasser*innen wollen zu viel hineinpacken, verstellen so das Kunstwerk eher, als dass sie es für die Betrachter*innen aufschliessen. Manchmal kranken solche Texte auch an zu grosser Banalität, sind zu technisch, zu biografisch, zu unpersönlich. Auch in einer Ausstellung möchte man ein wenig spüren, wer einen da begleitet, wer spricht.

BB: Aufgrund Ihrer Erfahrungen im Austausch mit eher jüngeren, teilweise auch noch weniger erfahrenen Kunstschaffenden, die mit den Kunststipendien oft zum ersten Mal in einem professionellen Kontext ausstellen können: Was wären abschliessend Ihre wichtigsten Ratschläge an die Künstler*innen, spezifisch im Umgang mit Text?

SH: Versuchen Sie, Ihre Gedanken nicht unnötig kompliziert zu machen. Seien Sie so konkret wie möglich, arbeiten Sie, wo es geht, mit Beispielen. Versuchen Sie, keinen Text zu schreiben, der Ihre Arbeit erschöpfend interpretiert. Kurz, lassen Sie sich selbst und den Leser*innen Raum.

Biografische Hinweise

Samuel Herzog, geboren 1966, bewegt sich im Grenzbereich von Kunst, Literatur und Journalismus. Er schreibt über seine Reisen, beschäftigt sich mit kulinarischen Themen und widmet sich transmedialen Projekten wie der fiktiven Insel Lemusa, deren Kultur er seit 2001 in Museen, Büchern und im Internet vorstellt.

Barbara Basting leitet das Ressort Bildende Kunst der Stadt Zürich.

Fotos: Zoe Tempest / Helmhaus Zürich

Kunststipendien der Stadt Zürich 2023: bis 17. September (Link)

Nicola Genovese, «1000 Regrets», 2023, Textil, Metall, Epoxidharz.

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