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Uriel Orlow - Werkjahr für Bildende Kunst 2015

Quer zu den Rhythmen des Kunstzirkus

Der aus Zürich stammende, derzeit in London lebende Künstler Uriel Orlow hat 2015 das Werkjahr der Stadt Zürich für Bildende Kunst zugesprochen bekommen. Dieses Werkjahr wird auf Antrag der Kommission für Bildende Kunst vergeben, man kann sich also nicht dafür bewerben. Uriel Orlow ist der dritte Empfänger des Werkjahrs nach Peter Regli und Christina Hemauer/Roman Keller. Im Gespräch erläutert er seine Arbeitsweise und spricht über das Projekt, das er als nächstes realisieren wird.

Porträtbild Uriel Orlow
Uriel Orlow ist an geschichtsträchtigen Orten unterwegs.

Barbara Basting: In der Ausstellung «Europa – Die Zukunft der Geschichte» im Zürcher Kunsthaus war im vergangenen Sommer auch eine Arbeit von Ihnen zu sehen, die einen engen Bezug zur Stadt Zürich hat, genauer zum berühmten Café Odeon. «In These Great Times» (2008) ist eine Installation aus schwarzweissen, stilistisch ein wenig an Comics erinnernden Porträtzeichnungen und Zeitungen. Wie in all Ihren Arbeiten werden darin Geschichte und Gegenwart auf besondere Weise miteinander verknüpft. Warum spielt das Café Odeon hier eine so zentrale Rolle?

Uriel Orlow: Mich interessieren grundsätzlich geschichtsträchtige Orte, an denen zwar nicht etwas Aussergewöhnliches passiert ist, wo sich aber Kontexte und Geschichten überlagern. Ich kannte das Café Odeon aus meiner Jugend, mitsamt den Erzählungen über all die Personen, die dort ein- und ausgegangen sind. Zunächst habe ich dann genauer recherchiert, wer diese Personen waren. Dabei wurde immer klarer, dass das Odeon während der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert seine spannendsten Zeiten erlebte. Intellektuelle, Kunstschaffende, Theaterleute sind damals nach Zürich gekommen, um dem Krieg zu entfliehen. Die meisten hatten nur bescheidene Unterkünfte. Das Café war für sie eine Art Wohnzimmer, wo sie sich trafen, Zeitung lasen, sich informierten. Da kam mir die Idee zu dieser kuriosen m «Klassenzusammenkunft», die die Leute in Porträts zusammen bringt, eine Konstellation – heute würde man sagen Tagcloud – von diesen Porträts zu machen.

Je nachdem erkennt man manche der Porträtierten, zum Beispiel Einstein, Else Lasker-Schüler, Lenin, Brecht, oder eben auch nicht. Spielt das eine Rolle für Sie?

Nein, es ist bewusst kein Quiz. Es geht eher um die Evokation einer Atmosphäre als um die Repräsentation bestimmter Personen und konkrete Informationen zu ihnen. Natürlich bekommt die Arbeit eine zusätzliche Dimension, wenn man die Porträtierten erkennt oder sogar weiss, was sie gemacht haben. Dann merkt man auch, dass sich manche getroffen haben, die Wege von anderen sich hingegen schon aus zeitlichen Gründen gar nicht kreuzen konnten. Die Porträts habe ich mit Filzstift gezeichnet, die Vorlagen habe ich in Zeitungen gefunden, zum Teil auch bei Fotografen. Es war übrigens viel einfacher, die Männer zu finden als die Frauen, weil sie einfach eine viel stärkere mediale Präsenz hatten. Das wäre die medienkritische
Komponente: Wer wird überhaupt gezeigt, wer gilt als wichtig und wird kulturhistorisch konserviert? An wen erinnern wir uns und an wen nicht? Und warum ist das so?

Die Porträts stammen ursprünglich aus Zeitungen, zur Installation gehören aber auch Zeitungen. Was hat es damit auf sich?

In der Ausstellungssituation werden die Porträts zusammen mit aktuellen Zeitungen von heute gezeigt, die vor der Wand auf dem Boden liegen. Sie werden aufgeschlagen auf einer Seite, die Kriegsmeldungen von heute bringt, was leider jeden Tag der Fall ist. Für mich ist dieser Bezug zur jeweiligen Gegenwart sehr wichtig. Es geht einerseits um die Frage nach dem Gedächtnis, danach, was diese Leute hinterlassen haben, aber auch darum, was unser Bezug zum Krieg ist und wer heute die Migrantinnen in Zürich sind und wo sie sich treffen.

Die Schweiz ist heute nach wie vor ein Ort der Immigration, wenn auch sicher anders als im ersten oder zweiten Weltkrieg. Dennoch stellen Sie in der Arbeit keine sehr unmittelbaren Verbindungen her. Gibt es dafür Gründe?

Ich will nicht direkt mit Aktualität arbeiten, denn da sind wir viel zu stark geprägt von den Medien, von den Themen, die Radio, Fernsehen und Zeitungen dominieren. Mich interessiert eine gewisse Distanz zu Gegenwart. Meine Fragen drehen sich um Orte und Geschichten, die in Vergessenheit geraten sind, um herauszufinden, inwiefern sie auch heute noch relevant sind. Es geht mir darum, grössere Reflexionsfelder zu eröffnen. Deswegen ist es auch wichtig zu wissen, dass diese Installation Teil eines dreiteiligen Zyklus ist, dessen Teile aber auch jeder für sich funktionieren. Die beiden anderen Werkteile beziehen sich auf die Nachkriegs-Zeit. In den 80-er Jahren, nachdem im Odeon Drogen gehandelt wurden, wurde das Café geteilt um übersichtlicher zu werden. Die andere Hälfte wurde in eine Apotheke verwandelt, wo fortan legal «Drogen» gehandelt werden. Die letzte Arbeit bezieht sich auf die Jugendstil- Architektur, mit Bezug auf «Ornament und Verbrechen» von Adolf Loos.

Stichwort Architektur – die spielt auch in Ihrer Videoinstallation über das Leben in den Ruinen einer Geisterstadt in Armenien eine Rolle. Wir sehen unfertige Betonblöcke und Menschen, die sich notdürftig darin eingerichtet haben. Das wirkt alles sehr geheimnisvoll und unwirklich. Gibt es hier eine Verbindung zu der Arbeit übers Odeon?

Auch in dieser Arbeit mit dem Titel «Remnants of the Future» geht es um die Überlagerung verschiedener Gedächtnisebenen und -mechanismen. Medial ist die Arbeit anders angelegt, auch der historische Kontext ist komplett ein anderer. Es geht um modernistische Utopien und das revolutionäre Gedankengut, in dem diese wurzeln. Die Betonbauten sind die realisierten Teile des letzten grossen sozialen Wohnungsbauprojekts der Sowjetunion. Es wurde noch unter Gorbatschow 1989 im Norden von Armenien begonnen, wo 1988 ein Erdbeben grosse Verwüstungen angerichtet hatte. An der neuen Siedlung wurde zwischen 1989 und 1991 gebaut, dann brach die Sowjetunion auseinander – was auch eine Art Erdbeben war – und die Siedlung blieb unvollendet. Hinzu kommt noch, dass die Stadt Musch 2 genannt wurde, nach der armenischen Stadt Musch in Ostanatolien, die während des Genozids an den Armeniern zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgelöscht wurde. Aber auch Musch 2 ist halb inexistent, denn es ist nicht nur eine Bauruine, man findet es auch auf keiner Landkarte. Die Stadt ist an nichts angeschlossen, und die Leute, die dort leben, sind zwischen Stuhl und Bank gefallen, haben zwischen Sozialismus und Kapitalismus keinen Platz gefunden.

Seit längerem gibt es in der zeitgenössischen Kunst einen Trend zur Arbeit mit dokumentarischen Elementen und Fragestellungen. Gibt es für Sie bestimmte Vorbilder innerhalb dieser Tradition?

Obwohl ich grössere Recherchen durchführe und dokumentarisches Material sammle, ist mein künstlerischer Ansatz nicht im engeren Sinn dokumentarisch. Es geht mir darum, das Material auf neue Weise abzumischen, und dabei können auch Fiktionen oder fiktive Elemente hinzukommen. Mich interessieren Übersetzungen; deswegen habe ich die fotografischen Porträts der Besucher des Café Odeon abgezeichnet. Es geht um die Konstruktion von Wirklichkeit, aber nicht um Realitäts- oder Wahrheitsbegriffe oder gar Objektivität, wie sie für eine dokumentarische Tradition wichtig sind. Ich würde auch so weit gehen zu sagen, dass auch das Historische oder Dokumentarische eine Konstruktion ist. Dieses Moment der Konstruktion des Historischen nehme ich sehr ernst. Wenn es um Vorbilder geht, so interessiert mich beispielsweise die künstlerische Praxis von Walid Raad, der im Libanon und in New York arbeitet und dessen Arbeit um den libanesischen Bürgerkriegs kreist, wobei zum Teil fiktive Elemente zum Zuge kommen, aber auch Susan Hiller.

Was kann denn aus Ihrer Sicht Kunst im Gegensatz zur Geschichtsschreibung leisten?

Als Künstler bin ich nicht an die Spielregeln einer Disziplin gebunden. Ich stelle mir meine Rolle ein wenig vor wie die des Hofnarren, der Dinge anders sagen kann, der mit verschiedenen Elementen spielen kann, der eben eine gewisse Narrenfreiheit hat. Zugleich heisst dies nicht, dass ich leichtfertig bin – ich bin mir meiner Verantwortung bewusst. Ich kann aber die verschiedenen Disziplinen und Methodologien benutzen, um neue Konstellationen sichtbar zu machen, neue Fragen in den Raum zu stellen.

Das Werkjahr dient Kunstschaffenden auch dazu, Freiraum für künftige Arbeiten zu schaffen. Woran arbeiten Sie derzeit?

Derzeit bin ich an einer umfangreichen Recherche in Südafrika. Es geht um Pflanzen, um eine Art «Politik» der Pflanzen als «Zeugen» oder Agenten in der Geschichte. Das Resultat wird ein grösserer Arbeitszyklus sein. Unter anderem will ich einen Film machen, keinen klassischen Kinofilm, aber schon eine Produktion mit Script und Schauspielern. Ausgangspunkt ist ein Gerichtsfall.

In der aktuellen Schweizer Kunst finden sich eher wenige kritische Auseinandersetzungen mit Geschichte, und wenn man Ihre Ausstellungsbiografie anschaut, sieht man, dass Sie international sehr präsent sind, aber eher in Institutionen und weniger im Kunstmarkt. Gibt es einen Grund dafür?

Meine Praxis hat sich über viele Jahre hinweg entwickelt, und sie steht vielleicht ein wenig quer zu den üblichen Rhythmen im Kunstzirkus. Wenn man beispielsweise mit Galerien arbeitet, spielen die Messeauftritte eine wichtige Rolle, man muss regelmässig Neues liefern und ist auch den jeweiligen Trends und Moden stärker unterworfen. Mir ist es wichtig, dass ich mir selber treu bleiben kann und eine Arbeit mache, zu der ich stehen kann.

Sie reisen viel, unter anderem auch im Nahen Osten, leben in London und sehen viele andere Realitäten, auch künstlerisch andere Welten. Was fällt Ihnen mit Blick auf die Zürcher Kunstszene besonders auf?

Für mich ist Kunst eine Auseinandersetzung mit der Welt. Ich schätze und praktiziere eine längere und vertiefte Auseinandersetzung mit grösseren Themenkomplexen, und das ist in der Schweiz und speziell in Zürich möglich, weil man hier die Ruhe und auch die finanziellen Möglichkeiten hat, sich mit schwierigen Fragen auseinanderzusetzen. Man ist in einer im internationalen Vergleich gesehen komfortablen Situation, aus der man noch mehr schöpfen könnte, nicht nur wirtschaftlich und prestigemässig, sondern auch inhaltlich. Leider geht dies bisweilen im Kunst- und Marktzirkus unter.

Interview: Barbara Basting

Website des Künstlers: www.urielorlow.net

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