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Das Comic-Stipendium 2017

Liebliche Abgründe

Fünf Deutschschweizer Städte haben sich vor vier Jahren zusammengetan, um im Rahmen des Pilotprojekts «Comicstipendien der Deutschschweizer Städte» das Comicschaffen zu fördern. Das Hauptstipendium wurde dieses Jahr Anna Sommer zugesprochen und ihr am Fumetto-Festival in Luzern übergeben. Barbara Basting, Leiterin Ressort Bildende Kunst der Stadt Zürich, hat Anna Sommer getroffen und mit ihr über ihre Arbeit als Illustratorin und Zeichnerin gesprochen. 

Das erste Buch von Anna Sommer bekam ich 1996 geschenkt. Es hiess «Damen Dramen», war in dem kleinen, inzwischen eingestellten Zürcher Verlag «Arrache Coeur» erschienen und gefiel mir auf Anhieb. Ziemlich ausgefallene, als Strichzeichnungen in Schwarzweiss ausgeführte Bildgeschichten ohne Text, wenn man mal von den Titeln absah. Aber auch diese waren äusserst knapp gehalten. Dafür eröffneten sie umso mehr Raum für Fantasien: «Die Frau des Müllmanns», «Die Frau vom Jäger». Sie wirkten fast so gewollt linkisch wie die Zeichnungen im Cartoonstil.

Anna Sommer entwickelt eine ungewöhnliche, eigene Bildsprache.
Anna Sommer entwickelt eine ungewöhnliche, eigene Bildsprache.

Aber im Rückblick war hier schon vieles angelegt, was Anna Sommers Werk bis heute kennzeichnet: Eine unverwechselbare Handschrift, eine nahezu selbstvergessene Liebe zum Detail, das Thema der kleinen, alltäglichen Desaster rund um die Liebe, vor allem die unerwiderte, die wilde Fantasien freisetzt und manche seelische Nöte offenbart. Auch die Tiere spielen schon eine wichtige Rolle, die durch Anna Sommers Werk defilieren wie stumme Kommentatoren verborgener menschlicher Regungen.

Zwar habe ich in der Folge nicht mehr so genau verfolgt, was Anna Sommer gemacht hat. Ihre Illustrationen sind mir eher zufällig in Zürcher Kinos begegnet, als Dias der Kinowerbefirma Bildwurf. Und neulich, als ich mal wieder im Zürcher Schuhladen «Schuh-Café» reinschaute, lagen an der Kasse Postkarten auf, die nach Anna Sommer aussahen. Ich fragte nach, und sie waren von Anna Sommer.

Comic-Förderung ein Kinder der Städte

Jetzt hat Anna Sommer von einer Jury im Rahmen des Luzerner Comicfestivals das mit 25 000 Franken dotierte Comic-Stipendium der Deutschschweizer Städte zugesprochen bekommen. Dieses Stipendium wurde vor vier Jahren eingerichtet (zusammen mit einem niedriger dotierten Nebenstipendium und, seit 2017, einem Projektförderbeitrag). Teilnahmeberechtigt sind die Comicschaffenden der beteiligten Städte (derzeit sind das Basel, Luzern, St. Gallen, Winterthur, Zürich). Das Stipendium ist ein Pilotprojekt, bei dessen Etablierung die Kulturabteilung der Stadt Zürich federführend war und das nach Ablauf der (verlängerten) Pilotphase 2018 evaluiert werden wird.

Anna Sommer: Neue Illustrationen

«Pulpo» und «Das Schaf» - Illustrationen aus jüngster Zeit. 

Zurück zu Anna Sommer. Einige ihrer Arbeiten der letzten Jahre zeigt sie mir bei einem Besuch in ihrer Atelierwohnung in Zürich-Wiedikon, in der sie auch arbeitet. An der Wand hängt unter anderem eine ihrer farbigen Illustrationen, die sich als vielschichtige, raffinierte Papierschnitte entpuppen. Ich bin nicht nur erstaunt, wie gross die Originale sind. Auch die subtilen Farbkombinationen und die gemusterten Papiere, mit denen Anna Sommer gerne arbeitet, kommen im Original noch besser zur Geltung als in der Druckversion. Die Musterpapiere findet Anna Sommer oft auf Reisen – in einem belgischen Tapetengeschäft oder in Japan. Sie schwärmt von der Farbpalette in Japan, die wesentlich reicher sei als bei uns.

Mit Bildern Kinder informieren

Dann zeigt mir Anna Sommer unter anderem zwei Kinderbücher, die sie zusammen mit einem Arzt am Zürcher Kinderspital entwickelt hat. Eines handelt von einem Kind mit Hirntumor, das andere von Leukämie. Das sind sehr besondere Bücher, keines der üblichen Mitbringsel. Sie sollen betroffene Kinder, aber auch deren Umfeld altersgerecht informieren.

Um den anspruchsvollen Stoff aufzubereiten, hat die Illustratorin das Kinderspital öfters aufgesucht und dort sogar einer Operation beigewohnt. Das Ergebnis sind ungemein ehrliche Bilder, in denen die Emotionen der Betroffenen deutlich spürbar sind. Durch die Schnitttechnik sind sie aber zugleich auch so abstrahiert, dass eine Distanz entsteht, die sicher dabei hilft, sich auf die Thematik einzulasssen. Zur unkitschigen Wärme der beiden Bücher tragen liebevolle Details bei; da gibt es zum Beispiel mitfühlende Stofftiere, ein Kamel und ein Hase, die immer dabei sind. Der Krankheitsverlauf, etwa die Invasion der weissen Blutkörperchen bei der Leukämie, wird dagegen mit hässlichen Monstern versinnbildlicht. Was naiv anmutet, erinnert zugleich an bewährte Bildstrategien, wie man sie von mittelalterlichen Bilderzählungen kennt. Dass beide Kinderbücher sehr erfolgreich waren und mittlerweile in diverse Sprachen übersetzt sind, erstaunt kaum.

Anna Sommer: «L'inconnu»

Zwei Seiten aus dem neuen Buch «L'inconnu», das im September 2017 erscheint.

Souveräne Ehrlichkeit

Anna Sommer hat das Stipendium aber nicht für ihre Arbeit als Illustratorin bekommen, sondern für die Fertigstellung einer Bilderzählung, in der es um eine ziemlich komplizierte Geschichte eines kinderlosen Paars geht. Anna Sommer skizziert den Plot, der sich einer Zusammenfassung in wenigen Sätzen sperrt, zeigt ihre Entwürfe, erläutert ihr Vorgehen anhand einiger schon ausgeführter Bildtafeln. Mir scheint, da entsteht eine erweiterte, angereicherte Fassung der «Damen Dramen» von einst. Ein durchaus gewagtes Experiment, meine ich, denn der Stoff ist für mein Empfinden eher belletristisch als comictauglich. 

Doch Anna Sommer antwortet darauf in ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art mit einem einleuchtenden Argument: Vor allem Frauen ihrer Generation seien im Comic anders unterwegs als die Männer. Diese hätten «immer schon jeweils alle Comics gelesen», arbeiteten sich also stärker an Vorbildern ab, auch was die Themen angehe. Die Frauen dagegen suchten ihren eigenen Stil. Das erkläre ihre Freiheit in der Bearbeitung neuer Themen und in der Entwicklung eigener Formen. Was ihre Vorbilder angehe, bewundert sie selber vor allem den E.O. Plauen und seine bis heute unübertroffenen «Vater-und-Sohn»-Geschichten sowie Wilhelm Busch. Wenn man dann noch erfährt, dass ihr Vater Kürschner war, hat man einen weiteren Schlüssel zu ihrem Werk in der Hand.

Zum Abschied schenkt mir Anna Sommer das Buch «Die Wahrheit und andere Erfindungen» mit ihren cartoonartigen autobiografischen Zeichnungen, angefangen mit ihrer Kindheit. Entstanden sind sie für die Pariser Zeitschrift «L'Imbécile» 2007. Es scheint mehr noch als die «Damen Dramen» die Essenz ihres Schaffens zu enthalten: Die peinlichen Situationen, die wir alle aus unserer Kindheit und Jugend noch mehr oder weniger gut in Erinnerung haben, der Umgang mit Minderwertigkeitsgefühlen, Krankheit, Missbildung, Sexualneid, Eifersucht, sind hier mit entwaffnender Ehrlichkeit und Souveränität wie unter dem Vergrösserungsglas präsentiert – und die Botschaft, wenn man denn partout nach einer suchen wollte, wäre wohl: Leute, seid ehrlich(er) mit euch selbst und gnädig(er) mit anderen. Das erinnert in den besten Momenten fast an die grossen Moralisten der Weltliteratur – deren Leitgedanke das «erkenne dich selbst» ist. Man darf also gespannt sein auf Anna Sommers nächstes Werk.

Text: Barbara Basting

Auch prämiert: Simone Floriane Baumann und Jan Bachmann

Simone Floriane Baumann aus Zürich erhielt den Projektbetrag von Fr. 5000. Die Jury honorierte ihren expressiven und fantasievollen Stil und ihre bedingungslose Begeisterung für das Medium Comic.

Jan Bachmann aus Basel wurde mit dem Förderstipendium von Fr. 15000 ausgezeichnet. Die kraftvollen und stilsicheren Zeichnungen beeindruckten die Jury. Bachmanns Projekt «Mühsam» überzeuge darüber hinaus durch seine solide Auseinandersetzung mit einem historischen Thema. 

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