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Der Fuchs – Geschichte eines urbanen Überlebenskünstlers

Normalerweise nimmt die Fachstelle KiöR freitags keine Anrufe entgegen, es ist nämlich tatsächlich unser Frei-Tag, wie auch der Vermerk auf unserer Webseite deklariert. Anders am Freitag im September 2020, als wiederholt mehrere Personen aus der Bevölkerung sowie die Stadtpolizei Zürich versuchten anzurufen und sich nicht mit dem Anrufbeantworter auf unserem mobilen Telefon zufriedengaben. Trotz Frei-Tag wurde der Anruf einer Nummer, die bereits viermal auf dem Display erschienen war, entgegengenommen mit der Befürchtung, dass wieder ein Kunstwerk auf öffentlichem Grund beschädigt worden war. Die Erfahrungen des Corona-Sommers mit einer unüblich hohen Zahl mutwillig zerstörter Objekte wirkten nach. So war es auch an diesem Freitag im September 2020.

Plötzlich verschwunden: Der «Fuchs» auf dem Sockel aus Waschbeton.
Plötzlich verschwunden: Der «Fuchs» auf dem Sockel aus Waschbeton.

Ein Herr S. meldet, der kleine Fuchs aus Bronze, der seit etwa 45 Jahren auf dem Platz vor dem Kollerhof an der Ecke Hohl- und Molkenstrasse gestanden habe, sei gestohlen worden. Er habe auch schon die Polizei informiert. Die Erleichterung ist gross, denn Herr S. – ihm sei an dieser Stelle für seine Aufmerksamkeit herzlich gedankt – meint die Tierfigur «Fuchs» des Schweizer Künstlers Uli Schoop (1903–1990), die wegen der Umgestaltung seines Standorts einige Tage zuvor hastig entfernt werden musste. Das Tiefbauamt der Stadt Zürich hat im letzten Jahr über hundert Projekte umgesetzt. Dass bei der Planung und Berücksichtigung aller möglichen Forderungen kleine und unscheinbar wirkende Kunstobjekte bei der Beachtung nach hinten rücken, ist nachvollziehbar. Einige Wochen vor Baubeginn der neuen Begegnungszone an der Molkenstrasse mussten wir unverzüglich reagieren und die Plastik sichern. Vor Ort blieben nur der leere Sockel aus Waschbeton und die vermutlich noch letzten in der Innenstadt anzutreffenden Pflanzenkübel aus demselben – heute fast kultigen – Baumaterial der 1970er-Jahre zurück. Ungewiss blieb, ob der «Fuchs» wieder in seinem bisherigen Habitat angesiedelt werden konnte. Zuerst mussten Pläne studiert und verschiedenste Standortmöglichkeiten in Zusammenarbeit mit den Raumexpert*innen des Fachbereichs «Grundlagen und Strategien» des Tiefbauamts erwogen werden.

Kunst hat Gewicht: Der «Fuchs» kommt zurück.
Kunst hat Gewicht: Der «Fuchs» kommt zurück.

Die hektische Rettungsaktion und die Besorgnis aus dem Kreis 4 für das offensichtlich doch nicht so unauffällige Kunstwerk trugen das Potenzial in sich, in die Anekdoten-Sammlung des verrückten Alltags der KiöR einzufliessen. Bei näherer Betrachtung zeigt uns der Vorfall aber auch wichtige Aspekte im Umgang mit dem öffentlichen Raum und der Bedeutung der darin aufgehobenen Kunst.

Gesteigerte Bedeutung des öffentlichen Raums

Neue Vorschriften, Beschränkungen und Pflichten zur Eingrenzung der Pandemie dominieren unser privates und öffentliches Leben. Wir erleben solidarische Akzeptanz auf der einen und Widerspruch auf der anderen Seite. Heftige Auseinandersetzung kennzeichnete schon vor Corona den Diskurs über den öffentlichen Raum in einer heterogenen und liberalen Gesellschaft. Treten die gegensätzlichen Pole durch die Pandemie nun stärker zutage? Oder hat die Bedrohung durch das Corona-Virus zu einer Sensibilisierung und gesteigerten Wahrnehmung der Bedeutung des Stadtraums beigetragen? Limitiert ist der Zugang zu den Innenräumen (Arbeitsplatz, Institutionen, Veranstaltungsorte, Restaurants) und schwierig gestaltet sich auch das Reisen. Wer sich nicht ins Idyll eines Balkons zurückziehen kann und wortwörtlich nur über vier Wände verfügt, hat während #stayhome und Shutdown notgedrungen sein Leben samt individuellen Bedürfnissen in den öffentlichen Raum verlagert. Dieser scheint – zumindest innerhalb unserer Landesgrenzen und abgesehen vom übersättigten Angebot an virtuellen Meeting-Plattformen – der einzige Ort zu sein, in dem ein unmittelbarer sozialer Austausch mit anderen Menschen stattfinden kann. Plätze und Pärke ergänzen den privaten Wohnraum und als Couch-Potato kann man sich auch auf urbanem Mobiliar hinfläzen – teils zum Ärger anderer Mitbürger*innen.

Beim Promenieren seine Stadt kennenlernen

Mit neugierigem Blick erkundigt der «Fuchs» aus neuer Perspektive seine Umgebung.
Mit neugierigem Blick erkundigt der «Fuchs» aus neuer Perspektive seine Umgebung.

Der Bewegungsradius beschränkt sich auf die nächste Umgebung und das Spazieren erlebt auch wochentags eine Renaissance. Beim alltäglichen Flanieren wird das eigene Quartier erkundet und neu eingeordnet. Der Schweizer Soziologe Lucius Burckhardt hat den hier greifenden Wahrnehmungsprozessen einen wichtigen Stellenwert für die Stadtplanung beigemessen und in den 1980er-Jahren die wissenschaftliche Disziplin der «Promenadologie» als kritische Methode der Auseinandersetzung mit urbanistischen Fragen entwickelt. Im Gehen und im sozialen Kontakt wird der öffentliche Raum erschlossen und ausgehandelt, wodurch sich Verortung darin und Identifikation damit verstärken. Bei dieser Annäherung, vielleicht sogar Einverleibung, verbindet sich die subjektive Raumerfahrung mit emotionalen Erlebnissen. Die Wahrnehmung der Umwelt setzt Aggression frei oder auch den Wunsch, Sorge zu tragen. Im urbanen Raum herrscht keine Konformität, sondern ein Spannungsfeld, das vielfältige Erfahrungen bietet. Kunst kann hier die Rolle eines Katalysators annehmen.

Der Fuchs als Identifikationsfigur

Sorgsam wird die Skulptur auf dem neuen, niedrigeren Sockel platziert und festgemacht.
Sorgsam wird die Skulptur auf dem neuen, niedrigeren Sockel platziert und festgemacht.

Der Vorfall rund um die Bronze «Fuchs» ist ein Beispiel für eine umsichtige und sich um den Nahbereich kümmernde Haltung. Tierfiguren nehmen in der Kunst im öffentlichen Raum eine besondere Rolle ein: Sie sind Projektionsflächen für unsere Gefühle und Emotionen. Die Möglichkeit zur Identifikation ist wichtig für die individuelle Erfahrung im öffentlichen Raum. In solchem Erleben manifestiert sich die Identität eines Ortes, wobei der ideelle Wert eines Kunstwerkes ausschlaggebend ist.

Bei der Neuplatzierung des «Fuchs» wurden neue, zeitgemässe Momente der Identifikation mitbedacht und umgesetzt. Stand das Kunstwerk vorher auf einem hohen Sockel, umgeben von Pflanzenkisten, fügt es sich nun stärker in seine Umgebung ein. Auf dem niedrigeren Postament thront und blickt der «Fuchs» weniger auf das Geschehen herab, sondern bewegt sich listig und schlau durch die Stadt. Die auffallende Reduktion auf die unverkennbaren Merkmale des Fuchses deutet auf einen wichtigen künstlerischen Antrieb des Künstlers Uli Schoop hin. Er war bemüht, über das naturgetreue Abbild hinaus «das Wesentliche zu finden, bis zur grösstmöglichen Vereinfachung», um in der Abstraktion «das eigentliche Wesen des Tieres zu erkennen». [1] Mit der tiefer gelegten Platzierung tritt die mit wenigen tangentialen Formlinien gestaltete lauernde und zugleich neugierige Haltung des Tieres noch mehr zutage. Um zu verhindern, dass das grazile Werk auf dem Platz untergeht, war es wichtig, die Figur durch die Setzung in Nähe der neuen Sitzbänke und Bäume in den Kontext einzubetten.

Herr S. freut sich über die Rückkehr des «Fuchs».
Herr S. freut sich über die Rückkehr des «Fuchs».

Der Fuchs (nicht ohne Grund wird von Stadtfüchsen gesprochen) hat Vorbildcharakter. Bei seinen nächtlichen Erkundungstouren hat er gelernt, sich im urbanen Geflecht von Verkehr, Architektur, gestalteter Natur, Bänken, künstlicher Beleuchtung und Werbeflächen zurechtzufinden – wie auch wir uns den öffentlichen Raum durch die Pandemieerfahrung auf eine neue Art und Weise aneignen. Auch Uli Schoops «Fuchs» wird trotz veränderter Bedingungen seine Anwesenheit im Kreis 4 festigen und dankt, dass Sie ihm Sorge tragen.

Text:
Karoliina Elmer und Sara Izzo

Foto:
Peter Baracchi/KiöR
Pietro Mattioli, Zürich («Fuchs» in der vorhergehenden Platzierung)

Der Künstler

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