Mobile Menu

Navigation

Meta Navigation

Hilfsnavigation

Global Navigation

KiöR: Der soziale Wert von Kunst im öffentlichen Raum

Die Schliessung der Museen und der Lockdown haben das Bewusstsein für den sozialen Wert von Kunst im öffentlichen Raum geschärft: als Ort des sozialen Austauschs, der Schaffung von Zusammenhalt und des Gesprächs über Inhalte und Ästhetik. Christoph Doswald, Vorsitzender der Arbeitsgruppe KiöR, erläutert, wie sich die Corona-Krise auf die Ausstellung «Gasträume 2020» ausgewirkt hat und welche Einsichten die KiöR auch in Zukunft produktiv nutzen möchte.

Peter Schneider: Die Arbeitsgruppe KiöR hat dieses Jahr keine Vernissage für die Ausstellung «Gasträume» durchgeführt: Wie nahmen das die Künstlerinnen und Künstler und auch die Veranstalter auf?

Christoph Doswald: Man unterschätzt, welche Bedeutung der soziale Austausch im Projekt «Gasträume» hat. Die Künstler und Künstlerinnen sind alleine im Atelier, bearbeiten Themen, formulieren ihre Eingabe und treten dann an die Öffentlichkeit. Die Vernissage hat eine Feedbackfunktion, an diesem Anlass kann in einer informierten Öffentlichkeit diskutiert werden, ob das Werk gelungen ist und wie es nun wirkt. Lange hielten wir darum an der Vernissage fest, verschoben die Eröffnung zuerst um zwei Wochen und mussten schliesslich doch erkennen, dass ein öffentlicher Anlass unter den gegebenen Umständen nicht möglich war.

Ausloten zwischenmenschlicher Distanz / Nähe: Ronja Römmelt, «Zwischenräume», 2020, partizipative Performance, Tessinerplatz, Zürich. © Taiyo Onorato & Nico Krebs / Kunst im öffentlichen Raum Zürich («Gasträume 2020»), Courtesy: Ronja Römmelt.
Ausloten zwischenmenschlicher Distanz / Nähe: Ronja Römmelt, «Zwischenräume», 2020, partizipative Performance, Tessinerplatz, Zürich. © Taiyo Onorato & Nico Krebs / Kunst im öffentlichen Raum Zürich («Gasträume 2020»), Courtesy: Ronja Römmelt.

Wie ein Blick ins Internet zeigt, trifft man sich nun alternativ auf Facebook und Instagram. Wie ist ist es dazu gekommen?

Wir haben uns früh überlegt, wie wir digitale Plattformen nutzen könnten, die zwar nicht dialogisch sind wie reale Treffen, die aber doch einen Austausch ermöglichen. Am 17. März, zu Beginn des Lockdowns, als die Museen geschlossen waren und auch das Seebecken gesperrt war, begannen wir, Drohnen-Videos von Kunstwerken im öffentlichen Raum zu veröffentlichen. Mit über 40 Videos haben wir täglich Kunstwerke aus ungewöhnlicher Perspektive vermittelt. Dann fragten wir uns, wie wir eine digitale Vernissage durchführen könnten, und drehten einminütige Videos, in denen ich kurz in die einzelnen Werke einführte. Zudem baten wir die Kunstschaffenden, uns eigene Videos zur Verfügung zu stellen.

Auf diese Weise erhält man eigentlich mehr Informationen zu den Werken als zu analogen Zeiten.

Ja, und wir haben über die sozialen Medien auch mehr Leute und ein anderes Publikum erreicht – das ist ein positiver Aspekt der Umstellungen. Künftig möchten wir das eine tun und das andere nicht lassen. Wir freuen uns also, hoffentlich zu einer Art Normalität mit realen Begegnungen zurückzukehren und gleichzeitig die sozialen Medien weiter mit zusätzlichen Formaten zu pflegen.

Ort der Begegnung: Michael Sailstorfer, «Z 46», 2020, Basteiplatz, Zürich. Marmor, 70 × 130 × 70 cm. © Peter Baracchi / Kunst im öffentlichen Raum Zürich («Gasträume 2020»), Courtesy: Studio Michael Sailstorfer und LIVIE FINE ART, Zürich.
Ort der Begegnung: Michael Sailstorfer, «Z 46», 2020, Basteiplatz, Zürich. Marmor, 70 × 130 × 70 cm. © Peter Baracchi / Kunst im öffentlichen Raum Zürich («Gasträume 2020»), Courtesy: Studio Michael Sailstorfer und LIVIE FINE ART, Zürich.

Mir scheint, dass manche Werke der «Gasträume» auch einen Gewinn an Bedeutungen verzeichnen durch die Aktualität?

Der Kontext ist bei Kunst im öffentlichen Raum immer entscheidend. Ein Bezug zu gesellschaftlich aktuellen Themen ist den Werken stets eigen. Aber jetzt beziehen einige explizit Position. So nimmt Ronja Römmelts Performance mit Passant/innen jeden Dienstag direkt Bezug auf das Social distancing, auf den Zwischenraum, der sich bei Begegnungen zwischen Menschen erschliesst. Andere Werke können – müssen aber nicht – in Zusammenhang mit der Corona-Krise gelesen werden. Zum Beispiel der riesige verlorene Zahn von Michael Sailstorfer, der jetzt auf der Wiese des Basteiplatzes zum Sitzen einlädt und damit einen Ort der Begegnung stiftet. Generell hat die Kunst im öffentlichen Raum durch die Krise viel und auch neue Bedeutung gewonnen. Nachdem man erlebt hat, was es heisst, wenn Museen geschlossen sind, begreift man jetzt verstärkt, welche sozialen Räume Kunst hervorbringt und wie sie Möglichkeiten für kollektive Erfahrungen bereitstellt.

Ungezwungene Nutzung des Werks auf dem Kartoffelmarkt: Jacobo Castellano, «Leche ciega (fuente)», 2020, Holz, Bienenwachs, Aluminium, 156 x 364 x 92 cm. © Victor Gisler, Courtesy Mai 36 Galerie Zurich.
Ungezwungene Nutzung des Werks auf dem Kartoffelmarkt: Jacobo Castellano, «Leche ciega (fuente)», 2020, Holz, Bienenwachs, Aluminium, 156 x 364 x 92 cm. © Victor Gisler, Courtesy Mai 36 Galerie Zurich.

Ist das Interesse an Kunst im öffentlichen Raum gestiegen?

Wir haben deutlich mehr Publikum. Kunst im öffentlichen Raum ist jetzt Teil des Freizeitangebots, das bei Einschränkungen noch möglich ist. Bei den Führungen ist der Andrang gross und wir müssen immer wieder Leute abweisen. Und einzelne Werke werden auch als prominenter Treffpunkt instrumentalisiert – etwa der genannte Zahn von Sailstorfer oder die Holzbank von Jacopo Castellano am Kartoffelmarkt. Dort sehen wir auch immer wieder Menschen, die sich ganz einfach hinsetzen und sich ausruhen.

Wenn Publikum der Kunst etwas gar nahe kommt … :  Ugo Rondinone, «snow moon», 2011, Paradeplatz, Zürich.  Aluminiumabguss, weiss lackiert, ca. 630 × 573 × 690 cm. Foto Peter Schneider, © der Künstler, Courtesy Galerie Eva Presenhuber Zürich / New York.
Wenn Publikum der Kunst etwas gar nahe kommt … : Ugo Rondinone, «snow moon», 2011, Paradeplatz, Zürich. Aluminiumabguss, weiss lackiert, ca. 630 × 573 × 690 cm. Foto Peter Schneider, © der Künstler, Courtesy Galerie Eva Presenhuber Zürich / New York.

Auf aktualisierte Bedeutung stösst man auch auf dem Paradeplatz: Der Künstler Ugo Rondinone hat vor Ort selber eine Interpretation seines Olivenbaums formuliert, die diesen als «Mahnmal für die Entwurzelung der italienischen Zuwanderer» versteht, die in den 60er Jahren in die Schweiz gekommen sind und hier teils unter menschenunwürdigen Bedingungen zu leben hatten. Andere Interpretationen setzen das Abbild des uralten Baumes in Bezug zur Klimakrise oder verweisen, wie der Text der KiöR, auf den Baum als Motiv, das bei Ugo Rondinone seit 1989 wiederkehrt. Wie ist es zu dieser fruchtbaren Debatte gekommen?

Üblicherweise leisten wir als Veranstalterinnnen und Veranstalter die Vermittlungsarbeit der Werke, in diesem Fall wird unser Text durch einen vom Künstler selbst unterschriebenen Text ergänzt. Wir erhielten von Ugo Rondinone ein Signal, dass er seine Arbeit zusätzlich auf persönliche Weise kommentieren wollte. Ich nehme an, dass sich die Stellungnahme des Künstlers im Sinne politischer und gesellschaftlicher Verantwortung auch besonders nach den heftigen Erfahrungen der Krise in New York aufdrängte, wo der Künstler lebt.

Eine Zeit lang war der Baum durch Baulatten abgeschirmt – ist er instabil?

Nein, aber als Folge der Coronakrise leben offenbar manche Leute nach Wochen des Lockdowns einen übersteuerten Umgang mit dem öffentlichen Raum aus. Während die meisten auf Distanz bleiben, suchen andere zu viel Nähe und besteigen Kunstwerke. Ein Wermutstropfen bei unseren sonst so schönen Erfahrungen ist es, dass Vandalismus an Kunstwerken im öffentlichen Raum zugenommen hat. So hat sich offenbar jemand an einen Ast des Baums gehängt, worauf dieser abgebrochen ist und repariert werden musste.

Welche positiven Erfahrungen nimmt die AG KiöR aus diesem eigenwilligen Kunstjahr in die Zukunft mit?

Sehr erfreulich war es, die Solidarität in der Kunstszene zu spüren. Die «Gasträume» sind ja seit Beginn ein gemeinsames Projekt von Galerien, Kunstschaffenden und der öffentlichen Hand. Bei den Galerien sind in den letzten Monaten die Einnahmen weggebrochen. Zum Beispiel war die Produktion der Gemälde von Ralph Bürgin auf der Sigi-Feigel-Terrasse in Frage gestellt. Die Galerie Barbara Seiler lancierte darum ein Crowdfunding-Projekt. Dass diese Aktion so gut funktionierte, war eine schöne Erfahrung. Die Galerien haben auch in schwierigen Zeiten einen Beitrag zum kulturellen Leben der Stadt geleistet. Ganz generell ist durch die Krise das Bewusstsein für den öffentlichen Raum gewachsen und die Wertschätzung unserer Tätigkeit für die Kunst im öffentlichen Raum ist gestiegen. Diese wird nicht mehr einfach als «nice to have» begriffen, sondern als wichtiger, grundlegender Beitrag zur Identität unserer Stadt verstanden, den es zu pflegen gilt.

Gespräch:
Peter Schneider

Foto:
Peter Baracchi/KiöR
Taiyo Onorato & Nico Krebs/KiöR
Victor Gisler/Galerie Mai 36
Peter Schneider

Weitere Informationen