Mobile Menu

Navigation

Meta Navigation

Hilfsnavigation

Global Navigation

Mit den Ohren denken

Bruce Odland (*1952, USA) und Sam Auinger (*1956, AUT) gründeten 1989 das Künstlerduo O+A und beschäftigen sich seither in ihren auf der ganzen Welt realisierten Interventionen mit dem Thema Stadtklang. Die Reflexion von spezifischen Sound-Kontexten ist das Markenzeichen von O+A. In der Europaallee in Zürich haben sie ein «Harmonic Gate» installiert. Das neue Kunstwerk, das aus einem Sensor und drei kieselförmigen Lautsprechern besteht, nimmt die akustische Umgebung in sich auf, transformiert sie und spielt sie harmonisiert in die Klangsphäre des Europaplatzes zurück. Ein Gespräch mit Sam Auinger über die ersten Erfahrungen mit dem Ende September eingeweihten Werk.

Unser urbaner Kontext transformiert sich momentan substanziell unter dem Einfluss von Corona. Wie nehmt ihr die Veränderungen der Sounds wahr, die mit den teils radikalen Einschränkungen der Krise verbunden sind?

SAM AUINGER: Stadtklang ist immer auch Stadtatmosphäre und ein wunderbares Beispiel dafür, dass Klangereignisse auf uns einerseits emotional wirken und andererseits Informationen sind, die von den Wirkungszusammenhängen unseres urbanen Alltags erzählen, davon, wie wir unsere sozialen und ökonomischen Interaktionen organisieren und gestalten.

Ich wohne seit 2000 im erweiterten Umfeld der Anflugschneise von Berlin-Tegel. Ich konnte den sich immer mehr verdichtenden Flugverkehr in den letzten 20 Jahren von meinem Balkon aus direkt miterleben. Es war ein regelrechter positiver Schock, den Himmel über unseren Köpfen wieder für längere Zeit lärmfrei zu erleben.

In den ersten Wochen des Lockdowns (Mitte März bis Mitte Mai) sind durch die veränderten Aktivitäten im Stadtraum – nahezu kein Verkehr und keine Bautätigkeiten – Demaskierungsprozesse entstanden. Ich konnte in Pankow zum ersten Mal die unterirdischen Wasserläufe im Kanalsystem hören, sonst sind diese immer überdeckt = maskiert. Nachtigallen sind in Berlin immer zu hören, aber nie in einer Intensität und Menge wie während dieser Zeit.

Wie hängt das konkret zusammen?

Der nicht mehr hinterfragte Alltagsdruck, der sich aus einem Meer von Verbrennungs-, Strom- und Medienklängen in unseren pulsierenden Städten speist, verschwand. Der Raum wurde transparenter und offener. Dies wurde von vielen Menschen bemerkt. Hören bekam einen anderen Stellenwert, da sich alles verlangsamte (sich verlangsamen musste) und der gewohnte Alltag nicht mehr stattfand. Die Gefahr einer Ansteckung (Husten und Niesen) lässt sich auch hören...

Klangsteine modulieren die Geräuschkulisse der Europaallee.
Klangsteine modulieren die Geräuschkulisse der Europaallee.

Die Europaallee wurde als Quartier mit urbanistischen Paradigmen des späten 20. Jahrhunderts konzipiert. Was hat das für einen Einfluss auf die ‹Melodie der Stadt›, im Vergleich zu anders gelagerten, beispielsweise historistischen oder modernistischen Konzepten?

Die Europaallee als urbanes Quartier ist eine neue gebaute Zeitschicht in Zürich mit einer gesamtstädtischen Wirkungskraft. Sie ist weder einer funktionalen Trennung verpflichtet noch einer wirklichen Durchmischung. Sie ist weder ressourcenschonend gebaut und angelegt, noch steht das soziale Miteinander im Vordergrund. In ihrer ‹Gebautheit› singt sie das Hohelied einer wohlhabenden neoliberalen Gesellschaft, eingebettet in eine (scheinbar funktionierende) globale Wirtschaft.

Städtische Quartiere wie die Europaallee sind entgegen ihrem ersten Eindruck soziale Organismen, in permanenter Veränderung, mit performativem Potenzial. Sie haben kaum selbstorganisierende musikalische Potenziale, nur sensible Programmierung und Bespielung schafft ein ‹Hören der Stadt›.

Keine ‹selbstorganisierten, musikalischen Potenziale› – was heisst das konkret?

Selbstorganisierende musikalische Potenziale können vielfältig sein. Im übertragenen Sinn geht es darum, wie weit ein Ort mich einlädt, hin- und zuzuhören, und mich zum ‹Tanzen› bringt. Stadtklang erzählt immer von der unauflöslichen Beziehung von Klangereignis (den Aktivitäten) zu gebauter Umgebung mit ihrer architektonischen Form und Materialität. Schallwellen sind Vibrationen, die sich in verschiedenen Wellenlängen mit gleicher Geschwindigkeit durch den Raum bewegen, sich im Raum ausbreiten und, je nach Frequenz (Wellenlänge) verschieden reflektiert, verstärkt oder gedämpft werden.

Zurück zur Europaallee: Der gebaute Raum ist hier sehr weitläufig in seiner monochromatischen Klanglichkeit – das heisst, es klingt überall gleich. Die Europaallee ‹singt nicht, spricht nicht›. Ihre Freiflächen – der grosse Europaplatz und die lange Promenade, ihre Durchbrüche und Verbindungswege – folgen keinem ästhetischen Konzept wie zum Beispiel einem goldenen Schnitt, sondern demokratisieren durch ihre hart reflektierenden und raumeffizienten Architekturen den quietschenden Lärm der Schienenfahrzeuge der angrenzenden Bahnstrecken, durch dessen gleichmässige Verteilung im grossen Raum.

Sphärische Klangwolken: Züge, Autos, Baugeräte und PassantInnen machen den Sound.
Sphärische Klangwolken: Züge, Autos, Baugeräte und PassantInnen machen den Sound.

Gibt es kulturelle Differenzen? Anders gefragt: Wie unterscheidet sich der Sound der Europaallee von der Geräuschkulisse anderer, nicht-europäischer Städte?

Ohne Frage hören sich Städte in Afrika oder Südamerika anders an, das Klima vor Ort und ihre jeweilige Flora und Fauna sind klanglich bestimmende Faktoren. Aber im urbanen Zusammenhang klingt ähnliches Wirtschaften ähnlich.

In ärmeren Gesellschaften ist die Technologisierung im Alltag weniger fortgeschritten, dafür hören wir zum Beispiel vermehrt die ‹arbeitende Hand›. Ihre meist informelle Wirtschaft (Strassenhändler, Suppenküchen, Schuhputzer usw.) organisiert Raum diverser und kleinteiliger. Raum wird hier polyphon und polyrhythmisch mit grosser Dynamik erlebt. Ihre Stadtbewohner haben in grossen Teilen einen niedrigeren Bildungsstand, auch das lässt sich hören. Der öffentliche Raum wird dabei verstärkt akustisch organisiert, man denke nur an die diversen Sound-Logos von Metallsammlern, der Müllabfuhr, fahrenden Händlern und diversen Strassenverkäufern.

Wie könnte im Westen eine diversere Geräusch-Topografie entstehen?

Hier verhält es sich wie mit einem Instrument, der Klang beginnt sich mit neuen und anderen Spieltechniken zu ändern.

Brauchen wir in urbanen Räumen mit zum Beispiel ‹Sound Design› eine neue Disziplin, um unsere Städte lebenswerter zu machen? Und wie wären die Anforderungen an diese neue Berufsgattung zu formulieren?

Es braucht kein Sound Design, da dieses immer ergebnisorientiert ist und eine klar definierte Aufgabe zu erfüllen oder Ansprüche zu bedienen sucht. Das grösste Problem dabei ist, vorgeben zu müssen, zu wissen, was gut und richtig ist. Urbaner Lebensraum ist immer ein Mischraum, sowohl kulturell als auch sozial. Was sich für eine Person als schön und liebenswert anhört, ist für jemand anderen nur furchtbar. Es ist aber dringend notwendig, in unseren Gestaltungs- und Planungsprozessen wieder mit ‹den Ohren zu denken›, zu verstehen, wie wir hören und wie wir Räume erleben und wahrnehmen. Der Hörsinn ist ein wesentlicher Teil des Raumsinns und Raumatmosphären agieren als unsichtbare Dirigenten von sozialen und ökonomischen Interaktionen.

Wir leben, zumindest im Westen, in einer quasi post-industriellen Stadt, in der übermässige Sound-Signale meist als Lärm eingestuft werden. Wie kann diese Wahrnehmung verändert werden?

Im Alltag finden wir Klänge und Klangemissionen meist aus zwei Gründen störend: a) Ein Klangereignis drängt in mein Bewusstsein und hat nichts mit mir zu tun. b) Eine Klangemission bestimmt massiv meine direkte Lebensumgebung.

Wie klingt ein städtischer Platz? «Harmonic Gate» schärft das Gehör.
Wie klingt ein städtischer Platz? «Harmonic Gate» schärft das Gehör.

Durch ein Bewusstmachen, wie sehr Klangwahrnehmung kontextualisiert ist und wie viel ungewollter Klang mit all den Dingen einhergeht, die wir ‹wollen› und uns ‹wünschen›, ist sicher ein wichtiger erster Schritt getan.

Und wie können wir einen konstruktiven Umgang damit finden, dass die mittelalterlichen Stadtkonzepte – die ja auch in der von dir beschriebenen, romantischen Soundkulisse anklingen – der Vergangenheit angehören?

Wie immer geht es dabei um Kommunikation. Seit der Renaissance haben wir eine (visuelle) Perspektive entwickelt, eine Sprache dafür, wie wir mit Bildern und unseren visuellen Eindrücken und Vorstellungen umgehen und sie kommunizieren. Wir haben nichts Vergleichbares für die Welt des Auditiven. Immer wieder innezuhalten und zu hören führt zu einer ‹hearing perspective›.

Gespräch: Christoph Doswald
Foto: Stefan Altenburger/Courtesy SBB und Stadt Zürich

Weitere Informationen